Freitag, 17. Mai 2013

+++PROZESS GEGEN LAND BERLIN, oder unwürdige Zustände in Gefängniszellen+++


Ein Ex-Häftling will mehr als 16.000 Euro vom Land Berlin, Schadensersatz für 659 Tage im Knast. Den Freiheitsentzug fand er okay, die Zellen nicht - die hält er für menschenunwürdig. Es gibt Hunderte Kläger wie ihn. Haben sie Erfolg, drohen Berlin Millionenzahlungen.


Am schlimmsten sind die Schlüssel. Wenn Jochen Meier* das Klappern hört, kommen die Erinnerungen zurück. Alles in ihm zieht sich zusammen, er wird erst unruhig, dann aggressiv. Das Geräusch erinnert ihn an eine Lebensphase, die er gerne hinter sich lassen möchte. Aber sie lässt ihn nicht los.

Es geht um seine Zeit im Gefängnis, als die Beamten mit ihren Schlüsselbunden Krach machten. Meier hatte viel Zeit, das Klappern zu hassen. Der 52-Jährige saß insgesamt rund zwölf Jahre in Haft, unter anderem wegen Schlägereien, Autoschieberei, Einbruchdiebstahls und Drogendeals.
Zuletzt war Meier von März 2008 bis Juni 2012 im Gefängnis, zunächst in Untersuchungshaft in der JVA Moabit, dann in der JVA Tegel. Damals war er seiner Ansicht nach 659 Tage unter menschenunwürdigen Umständen in Zellen untergebracht. Dafür hat er das Land Berlin auf 16.565 Euro Schadensersatz verklagt. "Die Zellen sind einfach eine Sauerei", sagt er. "Die waren schlimmer als der Freiheitsentzug."

Er berichtet von schwarzen Klobrillen, die vor lauter Schmutz auf der Unterseite gelblich-weiß waren. Von Nächten, in denen es so kalt war, dass er in der Winterjacke auf dem Bett saß. Vom Gestank, der sich von der Toilette in der ganzen Zelle verbreitete. Von vielen Tagen, an denen er bis zu 23 Stunden in dieser Umgebung verbringen musste.

Meier will nie wieder frieren wie in der Zelle

Und vor allem: Von Zellen, die so klein sind, dass man kaum einen Schritt machen konnte, ohne gegen eine Wand oder ein Möbelstück zu stoßen: "Tür, Toilette, Waschbecken, Tisch, Schrank, Bett, Ende." Laut Klage betrug die Zellengröße in Moabit 6,5 Quadratmeter, in Tegel 5,3. Für Gefängnis-Neubauten werden mindestens neun Quadratmeter empfohlen.

Die Senatsverwaltung für Justiz teilt mit, zu Einzelfällen und laufenden Verfahren äußere man sich nicht. Aber generell bestreitet sie, dass es in Berliner Knästen menschenunwürdig zugeht. Für die Reinigung der Zellen seien die Gefangenen selbst zuständig. Und Anwälte, die das Land vertreten, haben in Meiers Fall geltend gemacht, der "gleichförmige Vortrag der Kläger in allen Parallelverfahren zu den angeblich katastrophalen baulichen Zuständen soll wohl mehr Klischees bedienen als dass er der Wahrheit entspricht".

Jochen Meier sitzt seit fast einem Jahr nicht mehr in der Zelle, aber befreit fühlt er sich nicht. Er lebt bei seiner Freundin in Diepholz in der niedersächsischen Provinz, aus Selbstschutz. Hauptsache weit weg vom alten Leben und den Gefängnismauern. Hier kennt er niemanden, bleibt für sich. "Wenn ich nach Berlin zurückgehen würde, würde ich wieder straffällig werden."

Meier, Dreitagebart, zerfurchtes Gesicht, kurze struppige Haare, sitzt auf dem Sofa im Wohnzimmer und raucht. Der 52-Jährige boxte, machte Kraftsport. Fotos von vor wenigen Jahren zeigen ihn als stattliche Erscheinung. Davon ist nicht allzu viel übrig geblieben. "Ich sitze hier, fresse meine Tabletten und hoffe, dass es besser geht." Meier nimmt das Antidepressivum Citalopram, 40 Milligramm am Tag, die Höchstdosis.

318 Klagen seit November 2009

"Die Zeit in der U-Haft hat mich gebrochen", sagt Meier. Gefühlt ist Diepholz sehr nah an Berlin. Er habe öfter in der Zelle geweint, sei zusehends verwahrlost, habe sich nicht mehr rasiert, nicht mehr die Zähne geputzt. "Wenn ich als unschuldig gelte, soll man mich bitte auch so behandeln."

So wie Meier denken viele ehemalige Häftlinge. Allein seit Anfang November 2009 wurden 318 Prozesse gegen das Land Berlin angestrengt. Die Anwältin Diana Blum vertritt in den Verfahren Meier und Dutzende weitere Mandanten. Der Schutz der Menschenwürde sei im Grundgesetz festgeschrieben, sagt sie. "Schon allein deshalb hat die Behörde dafür zu sorgen, dass kein Gefangener menschenunwürdig untergebracht ist."

Lässt sich Menschenwürde an Quadratmetern, Kloschüsseln, Raumtemperaturen und Einschlusszeiten festmachen? "Es sind viele Punkte, bei denen man im Einzelfall sagt, na gut, es ist halt kein Hotel. Aber zusammengenommen ist es menschenunwürdig", sagt Blum.

Das sieht die Senatsverwaltung für Justiz anders. Sie hat beantragt, Meiers Klage abzuweisen.

Die Frage nach der Menschenwürde wird vor Gericht zur Frage, ob der Trennvorhang zwischen Toilette und dem Rest der Zelle dreckig war oder nicht, wie groß die Zellen tatsächlich waren, ob die Heizung nachts nur heruntergeregelt war, abgestellt wurde - oder komplett defekt war.

5,25 Quadratmeter Zelle sind menschenunwürdig

Umstritten ist die Unterbringung von Häftlingen schon lange. Der Verfassungsgerichtshof Berlin entschied im November 2009, dass die Unterbringung in der Teilanstalt I der JVA Tegel - wo auch Meier saß - einen Gefangenen in seiner Menschenwürde verletzte. Die Zelle war 5,25 Quadratmeter groß, eine nicht abgetrennte und nicht gesondert entlüftete Toilette im Raum. Die Senatsverwaltung teilt mit, nach dem Urteil habe man "sofort reagiert", etwa durch eine "deutliche Verlängerung der Aufschlusszeiten". Im Übrigen werde die Teilanstalt ohnehin geschlossen.

Ob Meier vor Gericht Erfolg haben wird, ist offen. Aber aussichtslos ist seine Klage nicht. Das lässt sich daran ablesen, dass das Landgericht Berlin Prozesskostenhilfe bewilligt hat. Das geschieht nur, wenn die Richter die Klage nicht von vornherein für abwegig halten.

Sollten Meier und andere Ex-Häftlinge gewinnen, könnte die Sache für Berlin teuer werden. Die Rechnung ist einfach: In dem Land sitzen Tausende Häftlinge im Gefängnis, jedes Jahr kommen neue hinzu - und Probleme mit Überbelegung und veralteten Zellenanlagen gibt es schon lange. Da kommen schnell Millionenforderungen zusammen.

"Meine Lage ist im Moment mehr als hoffnungslos"

Das schreckt die Justizverwaltung nicht. Vorsorglich seien Mittel zurückgelegt worden. Soweit das Landgericht bisher Klagen stattgegeben habe, sei das Land in Berufung gegangen. In diesen Fällen gehe es um insgesamt rund 660.000 Euro, und eine höchstrichterliche Entscheidung des Bundesgerichtshof stehe ohnehin noch aus.
Millionen für Ex-Häftlinge, im chronisch finanzschwachen Berlin? Anwältin Blum weiß, dass das Anliegen nicht populär ist. "Vielleicht steckt hinter dem derzeitigen Umgang mit Gefangenen auch der Gedanke: Da trifft es schon nicht den Falschen." Aber auch der Staat müsse sich an Gesetze halten. "Und wenn nicht, muss er zahlen."

Jochen Meier wäre schon zufrieden, wenn er nur einen Teil der angestrebten Summe bekäme. "Meine Lage ist im Moment mehr als hoffnungslos. Eine erfolgreiche Klage wäre ein Ansporn, wieder auf die Beine zu kommen. Dann hätte ich mit dem Teil meines Lebens abgeschlossen."

* Name geändert

Keine Kommentare: