Mit Wissen angeben? Mit moralischer Überlegenheit? Mit einem Freund mit Auto? So einfach wie das Angeben zu Schulzeiten war, ist es heute nicht mehr. Wer Anerkennung will, muss hochstapeln, ohne sich das anmerken zu lassen. Über eine neue Variante der Aufschneiderei.
Früher? War es sehr einfach, wenn man Aufmerksamkeit erregen wollte. Man rief oder signalisierte: Bitte alle mal eben hergucken! Und dann taten die Leute das auch.
Tim Sch. beispielsweise erntete in der Schule vielfach Bewunderung, weil er an jedem Tag der Woche ein anderes Paar Burlington-Kniestrümpfe trug, die er übrigens immer sehr stramm hochzog. Während Andreas J. immer im Unterricht die Hamburger Morgenpost las, um anschließend, auf dem Pausenhof, vernehmlich über das Wettrüsten oder die Startbahn West zu reflektieren.
Während wir in der Freistunde so taten, als bewegten wir uns durch einen Levis-Werbespot, ließ sich die sitzengebliebene, in allen anderen Belangen aber höchst souveräne Katrin B. direkt vor unseren Augen von ihrem Freund (!!) mit seinem Auto (!!!!!) abholen, um mit ihm alles außer Bio-Hausaufgaben zu machen. Sie blieb dann noch mal sitzen, die Katrin B. Aber na ja. Trotzdem.
Und dann gab's da noch den Pfadfinder Nils H., der bei jeder Gelegenheit, also in der Bio-, Musik-, Sozialkunde-, Geschichts-, Erdkunde- oder Ethikstunde, seine Überlegenheit betonte. Und wie er so schwadronierte, über die Kameraderie am Lagerfeuer, oder darüber, wie er Ökosysteme bestimmen und Morsegeräte konstruieren konnte und wie sein Engagement aus ihm einen wertvolleren Menschen und besseren Jethro-Tull-Versteher gemacht hätte, machte er eben auch gleichzeitig klar, dass wir anderen Babys waren, die Mehlwürmer in Schuhkartons züchteten und noch mit ihren Eltern verreisten.
Moralische Überlegenheit, erotische Wissensvorsprünge, Felgaufschwung - die einen brüsteten sich damit, die anderen sortierten sich drum herum. Oder sahen und hörten einfach weg. Der Aufmerksamkeit lag noch keine Ökonomie zugrunde. Angeberei war für uns also eine vergleichsweise grundentspannte Sache. Im Übrigen waren wir damals alle (bis auf Katrin B.s Boyfriend) unter 18, mithin sowieso weitgehend verstrahlt, und nein, damit ist gar nicht Tschernobyl gemeint.
Gesichtslose Nerds am Drücker
Heute ist das Erregen von Aufmerksamkeit zur Überlebensstrategie geworden. Und zwar in fast jeder Altersstufe und Funktion. Es gibt dafür einerseits so viele Möglichkeiten und Kanäle wie noch nie. Andererseits nutzt eben auch jeder andere. Einerseits ist es ein sympathischer Drehbucheinfall des Schicksals, dass heute ausgerechnet jene Nerds am Drücker sind, von denen in der Raucherecke niemand Notiz nahm (Katrin B. erinnert sich wahrscheinlich nicht mal an ihre Gesichter, geschweige denn an ihre geringelten Nickipullover).
Andererseits haben diese Nerds in aller Ruhe ein neues Programm für die Welt geschrieben. In dem sich Vorzeichen, Grammatik und Vokabeln des Miteinanders verändert haben und es noch tun; in immer schnellerer Geschwindigkeit. Weshalb die Menschen ständig neue Strategien und Werkzeuge entwickeln müssen, um weiterhin darin zu bestehen.
Die zarten Blüten der Angeberei
Es ist nicht mal zwei Jahre her, dass Sigmar Gabriel eine SMS öffentlich machte, die Angela Merkel ihm kurz zuvor geschickt hatte. Und dass uns gerade ad hoc nicht einfällt, was genau da drinnen stand, hängt damit zusammen, dass so gut wie gar nichts da drinnen stand. Nichtsdestotrotz: Die Veröffentlichung wurde damals als einmaliger Vorgang gedeutet, als ungeheuerlich, durch nichts zu erklären oder zu entschuldigen: als SMS-Armageddon.
Wenn heute der politische Geschäftsführer der Piratenpartei, Johannes Ponader, mehrere privat an ihn geschickte Kurznachrichten an die Presse schickt, in denen ihm sein Parteichef Christoph Lauer den Rücktritt nahelegt, so wie unlängst geschehen, so ist das laut common sense keine Ungeheuerlichkeit mehr, sondern legitime Strategie. Und das sogar im Namen der von Lauer und den Piraten selbst postulierten Transparenz!
So ein Lauer kann sich dann zwar heute in eine Talkshow setzen - was er auch direkt tat - und erläutern, worum es ihm bei "Transparenz" geht, nämlich nicht darum, dass jemand seine privaten SMS veröffentlicht, sondern um Information des Bürgers. Aber er wird dann auch gleich wieder von einem anderen Aufmerksamkeitsstrategen niedergerufen. In diesem Fall von seinem Gastgeber Markus Lanz, der zwar behauptet hatte: "Wir haben Sie eingeladen, weil wir versuchen wollen, das zu verstehen . . ." Der aber seinerseits ja auch um Quoten-Aufmerksamkeit buhlen und daher ordentlich für Tumult sorgen muss.
In den Fünfzigern hatte es etwas Verdrehtes, wenn jemand um jeden Preis der Lauteste oder Auffälligste sein wollte. In den Zwanzigern hatte man noch mehr Verständnis für Paradiesvögel, schließlich war die Gesellschaft gerade dabei, sich von Grund auf zu erneuern, und dazu bedarf es Reibung. Nur ist damit eben auch wieder nicht die Reibung gemeint, die man heute wohl erzeugen will, wenn man Desirée Nick, die übrigens auch kein Paradiesvogel ist, zwischen Hans-Ulrich Jörges und Wolfgang Kubicki setzt und dann alle zusammen über das Dschungelcamp diskutieren lässt.
Zarte Angeberei bei F. Scott Fitzgerald
In jener Zeit, den Zwanzigern also, schrieb F. Scott Fitzgerald "Der Große Gatsby" und beschrieb darin einen völlig neuen Aspekt der Angeberei: Wie zart nämlich, wie bittersüß und aussichtslos sie sein kann, wenn sie von Liebe motiviert und von gesellschaftlichem Dünkel begleitet wird. Das Buch gilt als eines der besten Bücher, die je geschrieben wurden, der neureiche Jay Gatsby als einer der vielschichtigsten Helden, als Game Changer der Weltliteratur. Und doch wäre er den Menschen heute genauso suspekt wie eine stramme Jungswade in einem pastellfarbenen Burlingtonstrumpf.
"In seinen blauen Gärten", heißt es im "Gatsby", "schwirrten Männer und junge Mädchen wie Falter zwischen dem Geflüster und dem Champagner und den Sternen umher. " Und weiter: "An den Wochenenden verwandelte sich sein Rolls Royce in einen Omnibus, der von neun Uhr morgens bis lange nach Mitternacht Leute aus der Stadt abholte und wieder zurückbeförderte . . ." Nicht nur würden heute unelegante Flashmobs Jay Gatsbys Partys stürmen und schulschwänzende Aktivisten gegen seinen Kohlendioxidausstoß demonstrieren, es wäre viel schlimmer: Man würde ihn für einen Kretin halten.
Was für ein Opfer!
Heute kaufen Leute Freunde bei Facebook, weil sie davon finanzielle Vorteile haben. Und da häufte dieser Gatsby sein Vermögen nur an, schmiss nur deshalb Riesenpartys für wildfremde Menschen, um - ein Mädchen zu beeindrucken?!? Was für ein Opfer! (Der Typ, nicht das Geld).
Verächtlicher als die unglücklichen Angeber betrachtet man heute eigentlich nur noch die glücklichen Angeber. Reich zu sein und guter Dinge, zwischen einem Schloss am Rhein und einem Strandhaus in Malibu pendelnd - und dann noch eine Vorabendsendung moderieren zu wollen, in der es um mehr als um Lkw und Biergläser geht: Diese Idee Thomas Gottschalks nahmen die Deutschen persönlich. Nur so ist die Vehemenz zu erklären, mit der Gottschalks ARD-Sendung im vorigen Jahr in der Luft zerrissen und abgesetzt wurde; gerade so, als sei auf seinem Sendeplatz vorher an der Patentformel für den Weltfrieden geforscht worden. Thomas Gottschalk hat möglicherweise nie das 2007 erschienene Buch "Die Macht der Emotionen" des französischen Evolutionsbiologen François Lelord gelesen. Dabei erklärt es so einiges, zum Beispiel, warum der Neid gerade in Demokratien so groß und häufig ist: Er ist ein Antriebsfaktor. Wenn in einer Gesellschaft zumindest theoretisch alle die gleichen Chancen haben, entsteht ein offener Wettbewerb um Macht und Wohlstand, und ein Wettbewerb entscheidet sich nun mal häufig durch Hauen und Stechen.
Nur kein Neid!
Die Gunst der Öffentlichkeit, also der Rumgoogler, Illegaldownloader, Gameofthronesdvdgucker und neuerdings eben auch: der Grimmepreisjury kann also heute nur erringen, wer keinerlei Neid erzeugt. Er darf gut aussehen, sollte dann aber auch am Existenzminimum rumkrebsen. Er darf sich keines weiter reichenden Gedankens schuldig machen (=Berechnung!), muss bis an die Lähmungsgrenze politisch korrekt sein, dabei allerdings beweisen, dass er immer "authentisch" ist, was durchaus den Verzehr von wirbellosen Tieren einschließt . . . Nicht ganz einfach, die neuen Definitionen, gell? Hier, als Zwischenbilanz, ein kleines Lexikon der Gegenwart:
Aussichtslose Liebe = Torheit.
Glücklichsein = Anmaßung.
Stolz (vergl. auch mit: Nichterreichbarkeit, z.B. am Handy) = Arroganz.
Ratsam ist, sich immer abzumelden, wenn man mal den Finger von irgendeiner Tastatur nehmen will. Als Musterbeispiel moderner Kommunikation gilt unser Bundesumweltminister Peter Altmaier. Ganz subaltern verabschiedet er sich abends auf Twitter mit den Worten: "Ich mach mich mal vom Acker". "Wer diesen Spruch von mir liest", verriet er unlängst im Interview, "weiß genau: Jetzt geht @Peteraltmaier zu Bett und funkt nicht mehr!" Und auf die Art findet die Öffentlichkeit es offenbar angemessen, fühlt sie sich auf Augenhöhe, da abgeholt, wo sie steht, und kann so großzügig von dem einen oder anderen Shitstorm absehen, zumindest aber gilt Peter Altmaier nun als der "Twitterkönig" unter Deutschlands Politikern.
Gibt's weitere Instrumente, um von der Öffentlichkeit gleichzeitig geliked und beachtet zu werden? Eine neue Verhaltensstrategie hat der amerikanische Komiker Harris Wittels ausgemacht. Sie wird als Humblebrag bezeichnet, also als Bescheidenheitsaufschneiderei. Im Tierreich wäre sie wohl vergleichbar mit dem Darbieten der Halsschlagader in der (berechtigten) Hoffnung, dass dann niemand reinbeißt. Im Menschenreich der Gegenwart bedeutet sie: Tarne deine Großmannsucht, indem du dich als klein, harmlos, stammelnd und dauerhaft von den Umständen überrumpelt ausgibst.
Wenn man dieses Verhalten einmal als neues Genre identifiziert hat, wirkt plötzlich vieles auf Twitter, in irgendwelchen Talkshows oder bei der Oscar-Verleihung viel lustiger als vorher. In Amerika gilt bereits als Humblebrag-Messias und Legende (ach, Moment: Legende = mehr als 50.000 Klicks) der Serienschauspieler LeVar Burton, der letztes Jahr ein Foto von seinem Kamin twitterte, versehen mit der Überschrift: "Das Licht ist heute Abend so gut in L.A. . . ." während man oben auf dem Kaminsims seine etwa 20 Emmy-Statuetten aufgereiht stehen sah.
Die besten Humblebragger
Aber man muss gar nicht so in die Ferne schweifen, auch deutsche Prominente haben Twitter-Accounts! Dass beispielsweise in Startrompeter und Jurysitzer Till Brönner ein hochbegabter Humblebragger steckt, ist zwingend zu vermuten. So twitterte er am 14. 9. 2010: "Interview Day for my new Album in Berlin right now . . . Interesting how different People hear the same Music!" Womit er 1. auf sein neues Album hinwies, 2. darauf, dass sich eine Menge Leute dafür interessieren, die 3. auch noch die vielfältigsten Interpretationsoptionen darin sehen. Leider enden Till Brönners Tweets am 15. April 2011. (Sie haben übrigens ihre ganz eigene Komik, diese mit so viel Aplomb - auf Englisch! International! - gestarteten, dann aber abrupt verwaisten Twitter-Accounts).
Dagegen hat der Schauspieler und Neu-Mogul Matthias Schweighöfer einen deutlich längeren Atem. Er twittert gern und viel und zum Beispiel am 16.01.2013 dieses: "Sorry für die Menschen die heute kein Autogramm bekommen haben. Wir versuchen unser Bestes. Nehmt es mir nicht übel. Ich habe nur zwei Hände". Oder am 23.11.2012 dieses: "Unglaublich. Am 30.November startet WHAT A MAN in den USA im Kino! Ganz schön großes Land für so einen kleinen Film!"
Peer Steinbrück, der untalentierte Angeber
Auch Volksmusikspatzl Stefanie Hertel geht recht raffiniert vor. Am 16. Februar 2013 twittert sie: "Ja, Ihr habt heute richtig gelesen in der BILD! Ich hab mich beim Skifahren verletzt . . . Ich werde dennoch heute Abend bei Carmen auftreten . . ."
Aber am geschicktesten getarnt ist vielleicht ja doch diese Nachricht, kein Wunder, da sie ja vom Twitterkönig himself stammt: "Ich habe jetzt ca 100 replies und noch immer keine Antwort auf die Frage, wo die Grenze für EEG-Umlage liegt."
Damit wäre übrigens auch final geklärt, warum Peer Steinbrück so schlecht dasteht in den Augen der Öffentlichkeit: In ihm steckt einfach nicht genug Humblebragger. Bundeskanzlerin Angela Merkel will derweil auch im Wahlkampfjahr Twitter weiterhin fernbleiben. Mal sehen, wann ihr das jemand als Großmannsucht auslegt.
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