Es war die Wunderpille der Wehrmacht: 1938 kam das Medikament Pervitin auf dem Markt. Das Aufputschmittel war nichts anderes als Methamphetamin. Doch trotz fataler Nebenwirkungen verschwand die Droge auch nach dem Krieg nicht - und erlebte in den USA sogar ein Revival. Dank eines Kochbuchs.
"Wachhaltemittel" stand auf der Packung. Einzunehmen, "um Schlaflosigkeit zu erhalten", aber "nur von Fall zu Fall!" Ein dickes Ausrufezeichen. Doch der junge Soldat brauchte mehr davon. Viel mehr. Der Krieg hatte den 22-Jährigen müde gemacht. Er war "kalt und gleichgültig und völlig interesselos" geworden, wie er selbst beobachtete. Per Feldpost bat er seine Familie um Nachschub. Am 20. Mai 1940 etwa schrieb er: "Vielleicht könntet Ihr mir noch etwas Pervitin für meinen Vorrat besorgen?" Schon eine Pille machte ihn so wach wie sonst nur literweise starker Kaffee. Mehr noch, alle Sorgen schienen dann wie weggeblasen, für ein paar Stunden war er richtig glücklich.
Der junge Mann, der in zahlreichen Briefen um Pervitin bettelte, war nicht irgendein Soldat. Es war der Schriftsteller Heinrich Böll. Und das von ihm geforderte Mittel ist heute illegal - und berüchtigt. Sein Name: Crystal Meth.
Viele Serienfans werden die Droge vor allem aus dem US-Quotenhit "Breaking Bad" kennen. Dort kocht ein Chemielehrer in finanziellen Nöten zusammen mit einem ehemaligen Schüler kiloweise Meth, und Ermittler jagen in der drückenden Hitze von New Mexiko große Drogenringe. Auch in Deutschland ist Meth auf dem Vormarsch: Im vergangenen Jahr registrierten die Behörden laut aktuellem Drogenbericht mehr Erstkonsumenten als je zuvor. Ihre Anzahl ist innerhalb eines Jahres von 1693 bekannten Fällen auf 2556 gestiegen. Hierzulande verbreiten sich die süchtig machenden Kristalle seit Mitte der neunziger Jahre und kommen hauptsächlich aus Tschechien.
German Wunderpille
Erstmals populär wurde die Droge allerdings in Deutschland. 1938 brachten die Berliner Temmler-Werke das Methamphetamin-Präparat "Pervitin" auf den Markt - und der Wehrphysiologe und Oberfeldarzt Otto Ranke sah darin ein wahres Wundermittel, das müde Piloten munter und ein ganzes Heer euphorisch machen konnte. Die ideale Kriegsdroge. Im September 1939 testete der Arzt das Mittel an Studenten, die trotz Schlafmangels plötzlich zu enormen Leistungen fähig waren. Von nun an verteilte die Wehrmacht die Tabletten millionenfach an ihre Soldaten an der Front. "Die Deutschen benutzen eine Wunderpille", schrieben britische Zeitungen. Doch das Wunder wurde für viele Soldaten zum Alptraum.
So verführerisch das von den Soldaten bald "Panzerschokolade" getaufte Mittel war, so verheerend wirkte es sich langfristig auf den Organismus aus. Die kurzen Erholungszeiten nach den langen Wachphasen reichten nicht aus, die Soldaten wurden schnell von den Muntermachern abhängig. Mit der Sucht kamen Schweißausbrüche, Schwindelanfälle, Depressionen, Wahnvorstellungen. Einige Soldaten starben an Herzversagen, andere erschossen sich in ihren Psychosen selbst. Einige Ärzte betrachteten die Nebenwirkungen von Pervitin skeptisch, "Reichsgesundheitsführer" Leonardo Conti wollte den Gebrauch einschränken, setzte sich aber nicht durch.
Studenten, Sportler, Sanitäter
Auch nach dem Krieg war Pervitin leicht erhältlich - auf dem Schwarzmarkt oder rezeptpflichtig in Apotheken. Ärzte verschrieben es ihren Patienten bedenkenlos als Appetitzügler oder Stimmungsaufheller bei Depressionen. Auch Studenten, vor allem angehende Mediziner, griffen für einen schnellen Abschluss auf das Aufputschmittel zurück, das ihnen nächtelanges Durchpauken ermöglichte.
Zahlreiche Sportler senkten mit Pervitin ihr Schmerzempfinden, steigerten gleichzeitig Leistungsfähigkeit und Ausdauer. Der Boxer Joseph "Jupp" Elze, 28, wachte 1968 nach einem K.o. im Ring nicht mehr auf. Er hatte 150 Kopftreffer eingesteckt. Ohne Methamphetamin wäre er viel früher zu Boden gegangen und vielleicht nicht gestorben. Elze wurde Deutschlands erstes bekanntes Dopingopfer. Das Mittel blieb dennoch auf dem Markt.
In den sechziger Jahren belieferten die Temmler-Werke die Armeen der DDR und der Bundesrepublik mit den Muntermachtabletten. Erst in den Siebzigern strich die Bundeswehr die Pillen aus dem Sanitätsbestand, die NVA verbannte sie im Jahr 1988. Pervitin wurde in ganz Deutschland verboten - doch die große Karriere des Methamphetamins als illegal produzierte Droge hatte gerade erst begonnen. Grund für den Aufstieg war ein amerikanisches Kochbuch.
Gefährliche Kristalle
In den USA, wo der Methkonsum heute weit verbreitet ist, blieb illegales Methamphetamin zunächst eine Randerscheinung. Ab den späten Siebzigern entdeckten Motorradgangs wie die Hells Angels das sogenannte Crystal Meth als Einkommensquelle und bauten Drogenküchen im großen Stil. Sie erschlossen sich aber hauptsächlich die kalifornischen Städte San Francisco und San Diego als Absatzmarkt und begrenzten das Problem damit weitgehend auf die Westküste.
Methamphetamin wurde nun nicht mehr als Pulver in Tabletten gepresst, sondern in Form von Kristallen verkauft. Die Wenigsten wussten allerdings, wie man die Kristalle herstellt - bis ein verrückter Tüftler aus Wisconsin Mitte der Achtziger das Drogenkochbuch "Secrets of Methamphetamine Manufacture" herausbrachte. Es war der Chemiker Steven Preisler alias "Uncle Fester".
Der Autor präsentiert in seinem umstrittenen, mittlerweile in der achten Auflage erhältlichen Buch sechs verschiedene Rezepte zur Zubereitung der Droge, die er "Raketentreibstoff für Menschen" nennt. Für alle verwendet er ausschließlich legale Zutaten. Durch eine einfache chemische Reaktion wird der Hauptbestandteil der Droge aus Hustenmedizin wie Wick MediNait extrahiert und mit Flüssigkeiten vermischt, die dessen Wirkung verstärken: etwa handelsüblicher Abflussreiniger, Batteriesäure oder Frostschutzmittel.
Von nun an entsteht der Stoff in immer mehr illegalen Meth-Küchen, eingerichtet in gewöhnlichen Mietwohnungen, abgelegenen Waldhütten oder Hotelzimmern. Beim Kochen von Meth entstehen hochgiftige, explosive Substanzen. Immer wieder fliegen improvisierte Drogenküchen in die Luft, abhängige Mütter lagern die gefährlichen Zutaten im Kühlschrank neben Babybrei und vergiften damit ihre Kinder.
Wie lebende Leichen
Die Anzahl dieser "Privatlabore" ist schockierend: Laut der amerikanischen Drogenfahndungsbehörde (DEA) wurden allein im Jahr 2010 rund 11.000 Meth-Küchen ausgehoben, verglichen mit 7530 in 2009. Allein im Bundesstaat Iowa, aufgrund der vielen Farmen auch "Brotkorb Amerikas" genannt, wurden 2000 dieser Drogenküchen entdeckt.
Meth wird geschnupft, geraucht, gegessen oder gespritzt, Süchtige konsumieren oft die tausendfache Dosis dessen, was die Wehrmachtsoldaten im Krieg genommen haben. Die Nebenwirkungen sind erschreckend: Meth schwächt das Immunsystem. So wuchern Ekzeme auf der Haut, Haare fallen aus, die Abhängigen bekommen den sogennanten Meth-Mund - die Zähne fallen aus und die Schleimhäute zersetzen sich. Methsüchtige magern stark ab, bekommen Nieren-, Magen- und Herzstörungen. Mit albtraumhaften Folgen: Vorher-Nachher-Bilder von Methabhängigen zeigen Menschen, die innerhalb kurzer Zeit aussehen wie lebende Leichen.
Trotz dieser fatalen Nebenwirkungen hat die Droge offenbar nichts von ihrem Reiz verloren, dem schon Heinrich Böll erlag. 2011 schätzte das National Institute of Drug Abuse, dass etwa 13 Millionen US-Amerikaner schon einmal Meth genommen haben. Die UN schätzt, dass es weltweit rund 24 Millionen Konsumenten gibt.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen