Es ist Unsinn, es geht einfach nicht, Wagners Musik von Wagners Leben und den schrecklichen Schriften abzutrennen. Sprechen wir also, zum 200. Geburtstag, von der Musik.
Wieder wurden die alten Kriegsbeile ausgegraben. All diese lieben, wurmstichigen Achtundsechziger-Argumente über die wahre Art, Wagner zu lieben. Wagner und wir. Unsere Droge. Verführung, Vergewaltigung, Rausch, Schuld, Sühne. Sie fallen schon fast von selbst auseinander, diese Argumente, denn keine der Waffen, mit denen wissende Wagnerfreunde gerade wieder um sich schlagen, ist neu. Wie könnte, was vor dreißig und vierzig Jahren diskutiert und widerlegt wurde, heute durch fleißiges Repetieren wieder zu scharfer Munition werden? Trotzdem dampft, klagt, grunzt, heult, droht und denunziert es sich immer wieder ganz herrlich, mit dieser apokalyptischen Traummusik im Ohr. Warum das so ist? Das frage ich mich schon lange nicht mehr. Ich frage mich, wie lange das noch so weitergehen soll.
Man wiederholt sich. Wir wissen, was wir wissen. Gerade wurde Wagner wieder von einem witzigen Bildredakteur mit schwarzem Filzstift ein Hitlerbärtchen angemalt. So etwas kostet nichts, bringt dem Artikel aber ruck, zuck! jede Menge Klicks. Gerade wurden wieder, in einer „Tannhäuser“-Generalpause, drei nackte Statisten mit Platzpatronen liquidiert. So etwas bringt ein Theater und den Regisseur zuverlässig in die Schlagzeilen. Und wieder schlagen sich die Opernfreunde weltweit mit denen herum, die auf der richtigen Seite der Geschichte stehen; die einen rufen Zensur, die anderen nach einem Arzt, und beide Parteien tun dies natürlich im Namen einer „künstlerischen Verantwortung“, als wüsste jeder, was das ganz genau ist. Als könne man eine k. V., gesund und naturrein wie laktosefreier Biokäse, bei Edeka um die Ecke besorgen.
Das schwärzeste C-Dur
„Wie antisemitisch darf ein Künstler sein?“ hieß Band 5 der „Musik-Konzepte“, der 1978 herauskam. Die korrekte Antwort damals wie heute lautet: gar nicht! Niemand darf. Am wenigsten Richard Wagner, mit seinen heidnischen „Heil Dir, Sonne“-Rufen in schwärzestem C-Dur oder mit diesem geil aufbrandenden Posaunengeknatter im alles über den Haufen rennenden Walkürenritt oder mit dem klirrenden „Wacht auf“-Chor aus den „Meistersingern“ oder dem Unschuldstralala des wilden Kindes, das sich ein unbesiegbares Schwert schmiedet, um Drachen und Zwerge zu töten. Ja, einen „Totschlagehelden“ hatte Thomas Mann den Siegfried aus „Siegfried“ einmal genannt, den er halb liebte, halb unappetitlich fand. Mann gehörte, wie schon Nietzsche, zu jener Sorte von fünfzigprozentigen Wagnerliebhabern, die irgendwo zwischen den hundertprozentigen Wagnerliebhabern und den hundertprozentigen Wagnerhassern herumstehen und sich Sorgen machen. Sie lieben Wagners Musik über alles, andererseits distanzieren sie sich von Wagners Denk- und Lebensweise. Heute macht diese Gruppe deutlich die Mehrheit aus. Dabei ist, in der Theaterpraxis, Wagner schon lange kein „Fall“ mehr. Er gehört zu den meistgespielten, meistgehörten Musikautoren. Und die Kaste der rabenschwarzen Wagnerianer, die früher, vor dreißig, vierzig Jahren, noch als das Lieblingsfeindbild linker Wagnerkritik durch die Wagnerliteratur spukte, die hat sich längst aufgelöst im Wohlgefallen eines weltumspannenden Wagnerfanclubs, der keine Parteien mehr kennt.
Auch fast alle unsere großen Wagnerexperten, die jetzt wieder ihre Kriegsbeile schwingen und ihre Bücher recyceln, gehören zur Fünfzigprozentgruppe. Sie sind weder Musiker noch Musikwissenschaftler, vielmehr Politik- oder Literaturwissenschaftler. Sie schreiben also quasi aus der Fankurve heraus. Reden viel Gescheites über dies und das, Schuld und Sühne, aber über Musik reden sie nicht. Es erleichtert wohl die Wahrheitsfindung, wenn man die Musik Wagners vom Restwagner erst einmal abtrennt. Der Musikwissenschaftler Carl Dahlhaus hat das schon vor vierzig Jahren (wann sonst?) bemerkt. Er schrieb, anno 1971: „Nichts wäre falscher, als in Wagners Musik das tönende Abbild der Biographie zu sehen.“ Der Literaturwissenschaftler Dieter Borchmeyer greift diesen Satz im Vorwort seines neuen Wagnerbuches, das voll jahrzehntealter Erkenntnisse steckt, dankbar auf, verspricht, er werde Werk und Leben trennen und sich hauptsächlich Ersterem zuwenden; schreibt aber dann doch wieder nicht über die Musik. Auch der Politikwissenschaftler Bermbach trennt die Musik Wagners sauber von Wagners Leben, Schriften, Ruhm, Wirkung. Wieso? Warum sollte ausgerechnet bei Richard Wagner die Kunst nichts mit dem Leben zu tun haben? Seit wann ist Musik unschuldig? Ist sie etwa nur „tönend bewegte Form“, wie Wagners jüdischer Kritiker, Eduard Hanslick, der das Vorbild war für den unglücklichen Beckmesser in den „Meistersingern“, einmal probehalber schrieb? Ist Musik rein und frei von Wissen und Gefühl, Verstand und Erfahrung? Und seit wann kann sich ein Autor heraushalten aus seinem Werk?
Die Gunst des Augenblicks
Dazu kommt: Weder wurden Wagners Kunstschriften gerade neu aufgelegt, noch haben seine Ansichten und Denkweisen über Politik, Rassentheorie, Pazifismus, Tierversuche oder Preußentum zurzeit Konjunktur. Seine Musik ist es, die in Mode ist. Warum sprechen unsere fünfzigprozentigen Wagnerexperten nicht über Musik?
Jedes zweite deutsche Stadttheater hat zurzeit einen eignen „Ring des Nibelungen“ im Fundus. Die zehn Hauptwerke Wagners werden heute mindestens so oft live aufgeführt wie die Symphonien Beethovens. Nicht, weil gerade zufällig Wagnerjahr ist, sondern sowieso und überhaupt, rauf und runter, an allen Opernhäusern. Wagners Musik hat sich fortgezeugt, sie hat starke Spuren hinterlassen in der Musik derer, die nach Wagner kamen, von Berg bis Henze, von Mahler und Schönberg bis Strauss und Widmann, und in der Kino- und Popmusik sowieso. Da wäre es doch mal was ganz Neues in diesem Wagnerjahr, wenn wir jetzt anfingen damit, über Wagners Musik zu sprechen. Ja, klar, auch darüber, was sie mit uns anstellt. Aber nicht nur. Erst mal darüber, was wir hören.
Über Musik reden ist natürlich schwer, vielleicht: das Schwerste. Robert Schumann (übrigens auch ein Antisemit, was in seinem Falle aber keineswegs dazu führte, dass man sein Leben von seiner Musik abtrennte), war einer der größten und besten Musikerklärer, die es je gab: Er stellt öfters fest, dass es schier unmöglich sei, etwas in Worten auszudrücken, was am präzisesten und besten von der Musik gesagt wurde. Was wir hören, hängt ab von der Gunst des Augenblicks, von der Kunst der Interpreten und von dem, was wir uns gerade zu hören erhofft hatten. Jeder Mensch hört etwas anderes, unabhängig davon, was in den Noten steht. Und Noten sind bekanntlich auch nicht die Musik, vielmehr schwarze Pünktchen auf weißem Papier, eine Anleitung zum Musikmachen, nur eine Möglichkeit von vielen. Trotzdem wäre es schon mal ein guter Anfang, gäbe es satisfaktionsfähige Notenausgaben von Wagners zehn Hauptwerken, die sich jeder kaufen könnte. Das ist bis jetzt nicht der Fall. Es ist grotesk: Einige meiner Kollegen Musikkritiker tragen immer noch die alten Klavierauszüge aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg mit sich herum. Der dritte Versuch einer kritischen Wagner-Gesamtausgabe ist zwar seit den Zeiten von Dahlhaus in Arbeit, aber nicht abgeschlossen, und diese Bände sind aus Kostengründen nur für Universitäts- und Institutsbibliotheken tauglich. Jetzt, dieser Tage, bringt der Schott-Verlag erstmals eine auf dieser kritischen Gesamtausgabe fußende Edition der Aufführungsmaterialien heraus, einmal in Stimmen, für die Orchester, was die Dirigenten und Theaterintendanten freut; zweitens in wohlfeilen neuen Klavierauszügen, für mich und für Sie. Den „Holländer“ gibt es sogar zweimal, erstmalig auch in der Urfassung von 1841. Das ist ein Anfang. Da können wir von jetzt an gemütlich drin schmökern.
Der Gedanke ist Mord
Einer der wenigen Wagnerexperten, die darauf bestehen, dass man die Musik Wagners vom Leben Wagners nie trennen dürfe, ist Jens Malte Fischer. Seine Obsession ist es, nachzuweisen, dass sich sein antisemitisches Denken auch musikalisch manifestiert. Für Figuren wie Beckmesser, Alberich und Mime ist das evident und schon seit Wagners Lebzeiten bekannt, bei Kundry oder dem Holländer wird es schon schwieriger. Es gibt genügend Beweise dafür, dass die hohe Lage, die keckernde, meckernde Gestik und bestimmte melodische Wendungen einhergehen mit der zeitgenössischen Karikatur dessen, was man für Synagogenmusik hielt. Zu Recht weist Fischer darauf hin, dass andere Komponisten, etwa Modest Mussorgski oder Richard Strauss, genauso verfuhren wie Wagner, ohne dass bisher jemand auf die Idee kam, ihnen zur Strafe für „Bilder einer Ausstellung“ oder „Salome“ ein Hitlerbärtchen anzumalen.
Einer der schlimmsten Abgründe in der Musik tut sich bei der zauberhaften Waldvogelstelle auf, kurz bevor Siegfried den wehr- und waffenlosen Juden Mime erschlägt, als wäre der eine lästige Fliege. Vielleicht hat Wagner das so komponiert, damit man seinem Helden auch über diese Mordtat hinaus freudig folgt. Der Vogel, dessen Gesang Siegfried dank der wahrheitstiftenden Drachenblutkostprobe plötzlich verstehen kann, warnt ihn vor Mimes finsteren Gedanken. Und mit einem Mal versteht Siegfried auch, was Mime denkt, als ob der auch ein Vogel wäre. Mime denkt an Mord, also legitimiert sich Siegfrieds Tat als Notwehr.
Aber es gibt noch viel mehr Bosheiten in den Opern Wagners, brutale, grausame, herzlose, widerwärtige und unmenschliche Stellen, die uns den Atem verschlagen und das Fürchten lehren. Das nutzt sich nicht ab. Jedes Mal, auch noch beim hundertsten, stellen sich pünktlich die Nackenhaare auf: bei Brünnhildes Sonnengruß, beim Chor der Walküren, in der Prügelfuge der „Meistersinger“. Aber auch wenn Hagen im Wald den Siegfried erschlägt, der gerade dank eines wahrheitstiftenden Trankes sein Gedächtnis wiedererlangte und einfach sagt, was er denkt. Das ist die Parallelstelle. Hagen erschlägt Siegfried, den unbewaffneten, hinterrücks. „Hagen, was tust du?“, ruft der Männerchor entsetzt. Tief seufzt das Orchester auf. Die Männer flüstern: „Was tatest du?“
Katharsis
Es ist das pure Entsetzen über das sinnlos Böse, das uns angrinst aus diesen Tönen. Nie verliert diese Schocker-Stelle ihre Wirkung. Wahrer ist sie und wirkungsvoller, als, beispielsweise, der Brautchor aus „Lohengrin“ oder das Lied vom Abendstern. Ja, schon seit jeher ist das Böse attraktiver als das Gute, das gilt nicht nur für Wagner, auch andere Komponisten, Verdi, Beethoven, Berlioz, Mozart, Schubert wussten das ebenso. Die brutal zerrissenen Ecksätze aus der Hammerklaviersonate, das Dröhnen des „Dies Irae“ aus dem Requiem, wenn die Knochen knacken, der Absturz ins Nichts in Schuberts C-Dur-Symphonie: schreckliche Musik, böse Musik, starke und unwiderstehlich schöne Musik. Sie leuchtet grell und kurz in den Abgrund, den jeder von sich selbst kennt. In der Antike nannte man das: Katharsis. Bei Goethe ist es die Kraft, die Gutes schafft. Was für eine gutmenschenfade Heuchelei geht da um unter den Wagnerfreunden, die den Krebs der Bosheit, die Pest des Irrtums, die apokalyptischen Reiter und alle sieben Todsünden am liebsten herausamputieren möchten aus Wagners Musik? Von keinem anderen Komponisten, nur von ihm wird das verlangt: Seine Musik soll sich besser benehmen als wir selbst. Schluss damit.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen