Es war der Coup des Jahrhunderts: Am 8. August 1963 überfiel eine Bande den Postzug nach London und erbeutete mehr als 2,6 Millionen Pfund. Die sechs wichtigsten und skurrilsten Fakten zu „The Great Train Robbery“.
„Ihr werdet es nicht glauben, aber sie haben gerade einen Zug gestohlen.“ Mit diesen Worten wurde per Polizeifunk gut eine Stunde nach dem Überfall die Jagd auf die Posträuber eröffnet. Tatsächlich war gerade etwas passiert, was es in der Geschichte des Verbrechens noch nie gegeben hatte: Eine mindestens 15-köpfige Bande hatte den Postzug von Glasgow nach London nachts um 3 Uhr mit einem manipulierten Signal gestoppt, die Lok mit den beiden ersten Wagen abgekoppelt und nach kurzer Weiterfahrt Geldsäcke mit über 2,6 Millionen Pfund entladen und abtransportiert. Und das ohne einen einzigen Schuss abzugeben.
Der Spuk dauerte nur eine Viertelstunde
Seelenruhig hatten die über 50 Postbediensteten in den stehengebliebenen Waggons weiter ihre Briefe sortiert. Von dem Überfall bekamen sie zunächst gar nichts mit. Anders der Lokführer, den – als er heftig Widerstand leistete – einer der Räuber brutal niederschlug.
Die Lok und das Geld im zweiten Waggon zuckelten zur mehr als einen Kilometer entfernten Bridego-Brücke, unter der eine Landstraße hindurchführte. Blitzschnell wanderten über 100 Postsäcke per Menschenkette die Böschung hinunter – und wurden auf zwei Landrovern und einem Lkw verstaut. Lediglich eine Viertelstunde hatte der ganze Spuk gedauert. Dann traten die Räuber aufs Gaspedal und steuerten die rund 40 Kilometer entfernte Leatherslade-Farm an, die sie zuvor über einen Strohmann angemietet hatten.
Die verräterische Farm
Den Überfall auf den Postzug hatte die Bande generalstabsmäßig geplant. Und fast alles war wie am Schnürchen gelaufen. Trotzdem kam die Polizei dem Großteil der Bande ziemlich schnell auf die Schliche.
Verantwortlich dafür war vor allem ein Mann: Detective Superintendent Malcolm Fewtrell leitete die Ermittlungen und schrieb später ein viel beachtetes Buch über die Jagd nach den Posträubern. Angeblich hatte ein Mitglied der Bande zu den Überfallenen, die sich im vorderen Zugteil befanden, gesagt, sie sollten sich eine halbe Stunde ruhig verhalten. Daraus schloss der Ermittler, dass der Unterschlupf der Gesuchten sich in einem Umkreis von maximal 30 Meilen befinden müsse.
Über die Medien ließ er die Bevölkerung auffordern, Verdächtiges zu melden. Zudem wurde eine hohe Belohnung für Hinweise ausgesetzt. Mit Erfolg. Auf den Tipp eines Nachbarn hin stießen Polizisten am 13. August auf die Leatherslade-Farm. Die Räuber hatten das Gehöft allerdings inzwischen verlassen.
Trotzdem brachte diese Entdeckung den Durchbruch: Im Keller fanden die Ermittler zahlreiche Postsäcke, in denen sich die Banderolen von Banknoten befanden. „Eine einzige große Spur“ sei die Farm gewesen, lautete das berühmte Statement von Fewtrell.
Das Eigentor von Richter Gnadenlos
Schon einen Tag nach der Entdeckung der Farm gingen die ersten beiden Täter den Fahndern ins Netz. Ausgerechnet von einer Polizisten-Witwe hatten sie eine Garage anmieten wollen. Die Frau schöpfte Verdacht und informierte die Polizei. Nach und nach wurde in den folgenden Wochen ein Großteil der Flüchtigen verhaftet. Bruce Reynolds, dem Kopf der Bande und Planer des Überfalls, gelang es jedoch, sich zu verstecken und später nach Mexiko zu fliehen. Als er 1968 heimlich nach England zurückkehrte, wurde er doch noch gefasst.
Am 20. Januar 1964 begann der Prozess. Knapp drei Monate später verkündete der zuständige Richter, Edmund Davies, das Strafmaß: 30 Jahre Gefängnis für die sieben Hauptangeklagten, darunter Ronald Biggs und Charlie Wilson. Die Strafe für den Postraub fiel damit höher aus als für Kindermord oder Vergewaltigung. Und sie sollte komplett abgesessen werden, denn eine Aussetzung auf Bewährung gab es damals noch nicht.
Große Teile der britischen Öffentlichkeit waren entsetzt. Nicht wenigen galten die Posträuber sogar als Helden. Der Richter sah das allerdings anders, wie seine Ansprache an einen der Verurteilten recht deutlich belegte: „Sie und Ihre Mitangeklagten wurden der Beteiligung an einem Verbrechen überführt, das in seiner Dreistigkeit und Ungeheuerlichkeit in diesem Jahrhundert ohne Beispiel ist. Ich werde alles in meiner Macht Stehende dafür tun, dass es auch das letzte bleibt.“
Davies wollte ein Exempel statuieren – und erreichte damit letztlich genau das Gegenteil. Denn sein überhartes Urteil trug zu einer Strafrechtsreform bei, die dazu führte, dass auch die Hauptangeklagten nach gut einem Jahrzehnt wieder auf freien Fuß kamen.
Spektakuläre Flucht aus dem Gefängnis
Zwei der Gefangenen sollten nicht lange hinter Gittern bleiben. Nur wenige Monate nach dem Urteil, am 12. August 1964, gelang dem Inhaftierten Charlie Wilson die Flucht aus seinem Gefängnis nahe Birmingham. Unbekannte überwältigten nachts die Wärter, schnappten sich deren Schlüssel zu den Zellen und entkamen zusammen mit Wilson über Strickleitern.
Zuerst floh Wilson nach Mexiko, später dann nach Kanada, wo er in der Nähe von Montreal wohnte. Dummerweise rief seine Ehefrau ihre Eltern in England an, wodurch Scotland Yard dem flüchtigen Posträuber auf die Spur kam. Anfang 1968 festgenommen musste er wieder in den Knast, bis er zehn Jahre später endgültig freikam.
Noch spektakulärer flüchtete Ronald Biggs aus der Haftanstalt Wandsworth im Süden Londons. Als am 8. Juli 1965 die Gefangenen im Hof ihre Runden drehten, hielt ein Möbelwagen draußen vor der sechs Meter hohen Gefängnismauer. Von einer Hebebühne aus ließen bewaffnete und maskierte Männer eine Strickleiter über die Brüstung in den Hof hinab, über die Biggs und drei seiner Mithäftlinge entkamen.
Ronald Biggs Superstar
Beim Überfall auf den Postzug hatte Biggs nur eine Nebenrolle gespielt. Doch nach seiner aufsehenerregenden Flucht aus dem Gefängnis avancierte er zum Superstar der Posträuber-Bande. 36 Jahre lang spielte er Katz und Maus mit Scotland Yard – und wurde weltberühmt.
Zunächst floh er über Antwerpen nach Paris, beschaffte sich dort falsche Papiere und ließ sein Gesicht verändern. Weiter ging es dann nach Australien, wo er mit seiner Frau und seinen beiden Söhnen zusammentraf. Die dortige Polizei fand zwar schließlich heraus, wo Biggs wohnte, doch alle Versuche scheiterten, den Posträuber festzunehmen.
Schließlich wurde Biggs der Boden zu heiß und er beschloss, Australien zu verlassen – ohne seine Familie. Auf einem Kreuzfahrtschiff reiste er nach Panama und von dort weiter nach Brasilien.
Fortan lebt er in Rio de Janeiro. Als er 1973 zu einer englischen Zeitung Kontakt aufnahm, verriet diese ihn an Scotland Yard. Vor Ort verhaftet drohte ihm die Überstellung in sein Heimatland. Doch weil seine brasilianische Geliebte ein Kind von ihm erwartete, durfte er nach dortiger Gesetzeslage nicht ausgeliefert werden. Der angereiste Scotland-Yard-Inspektor musste ohne Biggs nach England zurückfliegen.
Nun brauchte sich der frühere Posträuber nicht mehr zu verstecken. Als „Ronnie Biggs“ machte er weltweit Schlagzeilen. Mit der britischen Punkband „Sex Pistols“ nahm er ein Album und mit den „Toten Hosen“ eine Single auf. Gegen ein üppiges Honorar konnten sich Rio-Besucher mit ihm treffen und sich vom Postraub erzählen lassen.
Trotzdem hatte Biggs finanzielle Schwierigkeiten. Von der Beute des Überfalls war schon bei seiner Ankunft in Brasilien praktisch nichts mehr übrig. Und da er offiziell als „Krimineller“ galt, durfte er dort keiner Arbeit nachgehen. Gesundheitlich angeschlagen beschloss er 2001, nach England zurückzukehren, was ein gewaltiges Medienecho auslöste. Kaum war Biggs gelandet, nahm ihn die britische Polizei fest und steckte ihn in ein Hochsicherheitsgefängnis.
Erst im Jahr 2009 – kurz vor seinem 80. Geburtstag – wurde Biggs begnadigt. Nach mehreren Schlaganfällen und einem Herzinfarkt konnte er nicht mehr sprechen. Inzwischen lebt er in einem Pflegeheim und kommuniziert nur noch mithilfe einer Schreibtafel: „Wenn Sie mich fragen, ob ich bedauere, einer der Zugräuber zu sein, dann lautet meine Antwort ‚nein‘“, teilt Biggs mit. „Ich bin sogar stolz darauf, einer von ihnen gewesen zu sein. Was zählt, ist, dass ich in jener Nacht im August dabei gewesen bin. Ich bin einer der wenigen Zeugen dieses Jahrhundertverbrechens.“
Das meiste Geld blieb verschwunden
Die Posträuber erbeuteten im August 1963 genau 2 631 684 britische Pfund. Eine damals riesige Summe, deren heutiger Wert bei umgerechnet etwa 50 Millionen Euro liegen würde. Lediglich etwas mehr als 336 000 Pfund konnte die Polizei sicherstellen.
Die beiden als erste Verhafteten – Roger Cordrey und Bill Boal – hatten bei ihrer Festnahme rund 140 000 Pfund in ihren Autos und in ihrem Zimmer versteckt. 12 000 hatte Roy James bei sich, als er gefasst wurde. 36 000 fand die Polizei im Wohnwagen des flüchtigen Jimmy White. Weitere 100 000 waren in einer Sporttasche auf einer Waldlichtung abgelegt, knapp über 47 000 in einer Telefonzelle. Man vermutet, dass einige Täter sich durch diese „Übergaben“ ihrer Beute von der Verhaftung freikauften.
Was aber geschah mit dem Rest des Geldes? Ronald Biggs, Bruce Reynolds und Buster Edwards hatten aller Wahrscheinlichkeit nach ihre Anteile für ihre aufwändigen Fluchtpläne aufgebraucht. Schließlich mussten falsche Papiere ausgestellt, Schweigegelder gezahlt und natürlich eine neue Existenz in der Fremde aufgebaut werden.
Aber auch diejenigen, die 1964 vor Gericht standen, wurden kräftig zur Kasse gebeten. Ein Teil ihrer Beute wanderte in die Taschen ihrer Anwälte. Und auch so mancher Beamte der britischen Polizei, die damals sehr ausgiebige Kontakte zur Londoner Unterwelt hatte, könnte von Schmiergeldern profitiert haben.
(mit Material von AFP)
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