Freitag, 21. Juni 2013

+++BREMER SCHULMASSAKER 1913, oder wie ein Lehrer zum Helden wurde+++



Der Täter wartete bis zur großen Pause, dann eröffnete er das Feuer. Vor 100 Jahren fielen fünf Bremer Schülerinnen dem ersten dokumentierten Schulamoklauf der Geschichte zum Opfer. Die Tat weist beunruhigende Parallelen zu aktuellen Fällen auf. 


Am Freitag, dem 20. Juni 1913, vor 100 Jahren, kam der Tod an die Marienschule in Bremen. Doch an diesem Tag geschah nicht einfach nur ein mehrfacher Mord. Es fand der erste dokumentierte Schulamoklauf der Geschichte statt.

Es war kurz vor 11 Uhr, als die Lehrerin Maria Pohl die Schülerinnen ihrer ersten Klasse in Zweierreihen vor dem Klassenraum antreten ließ, um das Schulgebäude zur großen Pause zu verlassen. Als sich die Mädchen in Bewegung setzen wollten, stürmte ein Mann die Treppe hinauf und eröffnete das Feuer: der damals 29-jährige anstellungslose Lehrer Heinz Jacob Friedrich Ernst Schmidt, der erst seit Dezember 1912 in Bremen lebte.

Panik brach aus, während Schmidt weiter um sich schoss. Zwei Mädchen wurden tödlich getroffen. Bei dem Versuch, über die Treppe zu entkommen, stürzte eine Schülerin im Gedränge und brach sich das Genick. Einige andere Mädchen liefen zurück in den Klassenraum, wohin ihnen der Amokläufer folgte. Die fünf- und sechsjährigen Kinder flehten um ihr Leben: "Onkel, erschieß uns nicht!"

Unterdessen flüchtete sich Maria Pohl in den gegenüberliegenden Raum der Knabenklasse. Der dort unterrichtende Lehrer reagierte geistesgegenwärtig und verbarrikadierte die Tür seines Klassenraums. Er öffnete das Fenster und forderte seine Schüler auf, aus dem im Hochparterre gelegenen Raum in den Schulhof hinabzuspringen.

Knock-out mit der Heugabel 

Der Hausmeister der Schule war gleich, nachdem er die Schüsse gehört hatte, in das Gebäude gelaufen. Er warf sich von hinten auf den Amokläufer, der zuvor vergeblich versuchte hatte, in den abgeschlossenen Klassenraum zu gelangen. Beim Zweikampf mit dem Amokläufer traf ihn eine Kugel, die seine Kinnlade durchschlug und an der Wange wieder austrat. Er blieb ohnmächtig liegen, während Schmidt eine Treppe weiter nach oben eilte.

Vom offenen Fenster des Treppenabsatzes aus nahm er die flüchtenden Knaben auf dem Schulhof unter Beschuss. Fünf von ihnen wurden getroffen. Einzelne Schüsse schlugen auch in die umliegenden Wohnhäuser und in eine nahe gelegene Baustelle ein, wo ein Dachdecker am Arm getroffen wurde. Als Schmidt weiter nach oben laufen wollte, stellte sich ihm der Lehrer Hubert Möllmann entgegen. Der Amokläufer feuerte auf ihn und traf ihn in die Brust. Trotzdem konnte Möllmann sich noch auf den Attentäter stürzen und rang ihn zu Boden, wo er von einem zweiten Schuss in den Unterleib getroffen wurde und liegen blieb.

Mittlerweile rannten besorgte Mütter und Väter zur Schule. Benachbarte Straßen füllten sich mit Schaulustigen, von denen manche von den umliegenden Dächern aus einen Blick auf das Geschehen zu erhaschen versuchten. Einige Passanten drangen in das Schulgebäude ein, um den Amokläufer zu überwältigen, der sich nun im Kampf mit mehreren Personen befand. Ein hinzugekommener Fuhrmann schlug Schmidt schließlich mit einer Heugabel nieder, wie der Bremer Korrespondent des "Berliner Lokal-Anzeigers" seinerzeit berichtete.

Blanke Säbel gegen Lynchjustiz 

Nach einer knappen Viertelstunde war der Amoklauf beendet, der insgesamt fünf Todesopfer fordern sollte. Neben den drei Mädchen, die sofort tot waren, erlagen zwei weitere Schülerinnen im Verlauf der folgenden vier Wochen ihren Schussverletzungen. Schmidt wurde festgenommen und auf das nächste Polizeirevier gebracht. Die Polizei hatte dabei Mühe, den Attentäter vor der Lynchjustiz durch die herbeigeeilte Menschenmenge zu bewahren. Mit vorgehaltener Waffe und blankgezogenen Säbeln trieben sie die tobende Masse, darunter viele Eltern, deren Kinder die Marienschule besuchten, auseinander.

Das Deutsche Reich feierte gerade den 25. Jahrestag des Regierungsantritts seiner Majestät des Königs und Kaisers Wilhelm II. mit glanzvollen Militärparaden, als die Nachricht aus Bremen über Korrespondenten und Agenturen verbreitet wurde. Zeitungen erschienen in Extraausgaben, um über das "Blutbad in der Schule" zu berichten. Selbst die "New York Times" veröffentlichte einen Augenzeugenbericht aus Bremen.

In der folgenden öffentlichen Debatte wurden schnell Forderungen nach einer Verschärfung des Waffenrechts im Deutschen Reich laut. Denn Schmidt hatte sich ungehindert mehrere Revolver der Marke Browning und fast tausend Patronen beschaffen können, obwohl er schon länger an psychischen Erkrankungen litt, die ihn an der weiteren Ausübung seines Lehrerberufs gehindert hatten.

Hass gegen die Jesuiten 

Schon im März und April 1913 hatten sich zwei Bremer Waffenhändler an die Polizei gewandt, weil ihnen die Menge an Waffen und Munition, die Schmidt bei ihnen gekauft hatte, und der Käufer selbst, verdächtig erschienen waren. Die Ermittlungen verliefen jedoch im Sande. Außerdem wurde nach dem Amoklauf bekannt, dass Schmidts Mutter nur wenige Monate vor dem Amoklauf nach Bremen gekommen war, um ihren Sohn in eine Nervenheilanstalt einweisen zu lassen - allerdings erfolglos. Im Mai 1911 war Schmidt bereits in ein Sanatorium eingewiesen, kurze Zeit später aber als geheilt entlassen worden.

Der Amokläufer selbst verweigerte nach seiner Verhaftung jede Aussage. Doch schnell wurden Details aus seinem Vorleben und zu seiner Motivlage bekannt. Einen Brief seiner Schwester über die schwere Erkrankung seines Vaters, eines protestantischen Geistlichen, hatte er mit dem Zusatz "Das haben die Jesuiten getan" versehen. Die Nachforschungen der Bremer Kriminalpolizei ergaben, dass Schmidts Vater am Tag vor dem Amoklauf gestorben war und er per Telegramm am Nachmittag davon erfahren hatte. Auch dafür machte er in seinem Verfolgungswahn die Jesuiten verantwortlich, wie er einem Bremer Arzt in einem Brief mitteilte.

Wenngleich Niederlassungen des Jesuitenordens auf dem Gebiet des Deutschen Kaiserreichs seit dem Jesuitengesetz 1872 verboten waren, hielten die Verschwörungstheorien um die Jesuiten an. Neben Juden und Freimaurern standen sie im Zentrum kruder Weltherrschaftstheorien, die im Deutschen Kaiserreich florierten.

Vier kleine Särge 

Vier Tage nach der Bluttat nahm Bremen in einer bewegenden Trauerfeier Abschied von den Opfern des Attentäters. In der bis auf den letzten Platz gefüllten Marienkirche waren vier kleine Särge vor dem Altar aufgestellt worden - bedeckt von zahlreichen Kränzen und umgeben von einem Meer aus Kerzen. Nach dem Requiem trugen die Lehrer der Marienschule die Särge zu den bereitstehenden Leichenwagen, bevor sich ein langer Zug formierte, der die Mädchen unter schweren Regenwolken zu Grabe trug.

In Bremen erinnert heute nichts mehr an das schreckliche Geschehen vor 100 Jahren. Die Marienschule, im Zweiten Weltkrieg zerstört, wurde an anderer Stelle wieder aufgebaut. Die Gräber der fünf Mädchen, die 1913 Seite an Seite beigesetzt worden waren, sind längst eingeebnet. Attentäter Schmidt wurde für "irrsinnig" erklärt, so dass es nicht zu einem Gerichtsverfahren kam. Er verbrachte den Rest seines Lebens in der Bremer Irrenanstalt und starb 20 Jahre nach seiner Tat an Tuberkulose.

Bei seiner Verhaftung hatte Schmidt ausgerufen: "Der Anfang ist gemacht, das Ende kommt noch." Er sollte recht behalten. Seine Bluttat in Bremen war nur der Beginn einer weltweiten Serie von Schulattentaten in den vergangenen 100 Jahren, die heute vor allem mit Orten wie Erfurt, Winnenden, Littleton und zuletzt Newtown verbunden werden.

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