Siedlungen, Opferstätten, Werkzeuge und Geschirr - im Marschboden von Dänemark und Norddeutschland haben Archäologen Spuren der Germanen entdeckt. Sie zeugen von Kriegen, der Entwicklung erster Siedlungen und einer Kultur, die weniger rüpelhaft war als bisher geglaubt.
"Nehmen Sie im Bachtal Rücksicht auf die Tiere!", bittet die dänische Tourismuszentrale Besucher des Illerup Ådal, eines Naturschutzgebiets rund 20 Kilometer südwestlich von Århus. Es ist ein idyllischer Ort. Sumpfige Moorwiesen wechseln sich mit schattigen Hainen ab, Fauna und Flora existieren hier ungestört.
Doch in den ersten Jahrhunderten unserer Zeitrechnung ging es im hübschen Illerup Ådal weniger um das Leben als um den Tod. Dicht unter der Torfdecke liegen Hunderte von Leichen. Das Illerup Ådal ist nicht nur ein Naturschutzgebiet, sondern auch die größte bekannte Stätte für Menschenopfer in Nordeuropa. Ganze Heere brachten die Menschen hier ihren Göttern dar.
Aber nicht nur die Knochen geopferter Krieger liegen hier, sondern auch über 15.000 Teile ihrer Waffen, Schilde und persönliche Gegenstände. Nach mindestens vier Schlachten wurden in den Jahren zwischen 200 und 500 nach Christus Schwerter, Speere und Schilde der Besiegten in dem flachen See versenkt, der damals das Bachtal ausfüllte. Bevor die Sieger sie, in Stoffbündel gewickelt, von Booten aus in den See warfen, zerhackten sie die Waffen - so gründlich, dass keine Menschenhand sie mehr würde führen können.
Nur wer hat hier wen geopfert? Und warum? Schriftliche Berichte von auch nur einem der Gemetzel gibt es nicht. Kein Heldenlied erzählt von den Taten der Triumphierenden, kein Klagelied schildert die Leiden der Unterlegenen. Alles, was wir heute über die Geschehnisse im Illerup Ådal wissen, haben Archäologen mühsam anhand der Funde rekonstruiert.
Die meisten der Waffen stammen aus der ältesten Opferung, dem sogenannten Fundplatz A. Ihre Geschichte beginnt an einem Tag im frühen 3. Jahrhundert unserer Zeitrechnung. Etwa 1000 Mann brachen in rund 50 Booten von der Westküste der skandinavischen Halbinsel gen Süden auf. Sie ruderten das Kattegat hinunter bis zur Ostküste Jütlands. Doch auf die Männer wartete keine fette Beute, sondern Sklaverei oder der Tod.
Die Angegriffenen müssen gewarnt und gut vorbereitet gewesen sein. Sie empfingen die Eindringlinge aus dem Norden, wehrten die Attacke ab, besiegten und entwaffneten schließlich die feindlichen Krieger. Zusammen mit den Waffen mussten die Unterlegenen auch abgeben, was sie bei sich trugen. So gelangten vor allem Kämme und Feuerzeuge in die Opferbündel und schließlich auf den Grund des Sees.
Diese persönlichen Gegenstände waren es, die den Archäologen schließlich die entscheidenden Hinweise auf die Herkunft der Angreifer gaben. Denn die Kämme waren aus Geweihen von Rentieren oder Elchen gefertigt - beides Tierarten, die im Illerup Ådal nicht vorkamen. Und die Steine, auf denen die Angreifer mit dem Eisen das Feuer schlugen, waren Quarzite.
Im Illerup Ådal benutzte man dazu Flint, den klassischen Feuerstein. Den aber gab es auf der skandinavischen Halbinsel nur selten, also behalf man sich dort mit Quarzit. Rentiere, Elche und Quarzit: Die Spur führte nach Westskandinavien.
An den Waffen dagegen ließ sich kaum etwas erkennen. Die Soldaten hatten anscheinend von Händlern gekauft, was gerade im Angebot war - oder auf Raubzügen eingesammelt, was sie den Händen der Feinde entwinden konnten. Speere, Lanzen und Schilde stammten aus dem gesamten skandinavischen Raum. Unter den Schwertern und Schwertscheiden fanden sich aber auch etliche, die ursprünglich für römische Soldaten hergestellt worden waren.
So zusammengewürfelt ihr Arsenal aussah - bei den Angreifern handelte es sich um alles andere als um einen marodierenden Haufen. Davon zeugt, wie die Waffen ihrer Qualität nach auf die Krieger verteilt waren.
An der Spitze der Truppe standen Heerführer, erkennbar an ihren prunkvollen Schilden mit Buckeln - dem zentralen Hand- und Griffschutz - aus Gold und Silber. Sechs Stück bargen die Archäologen am Fundplatz A. Auf der nächsten Rangstufe folgten die Offiziere, repräsentiert durch 36 bronzene Schildbuckel. Vom gemeinen Fußvolk sind schließlich etwa 350 Schildbuckel aus Eisen erhalten geblieben.
Die straffe Organisation der Truppe trägt eine römische Handschrift
Diese straffe Organisation der Truppe trägt eindeutig eine römische Handschrift. "Es ist nicht nur der größte Fundkomplex römischer Schwerter, den wir kennen", interpretiert Michael Meyer, Prähistoriker an der Freien Universität Berlin, den Fundplatz A. "Die Bewaffnung der Krieger von Illerup zeigt auch, dass bis zu einem gewissen Punkt sogar die Gliederung germanischer Heere an römische Verhältnisse angepasst wurde."
Meyer muss es wissen: Sein Spezialgebiet sind die Germanen, aber auch mit römischer Bewaffnung ist er bestens vertraut. Meyer leitet die Ausgrabungen am Harzhorn, wo im Jahr 233 Germanen und Römer erbittert gegeneinander wüteten.
Auf die Anzahl von rund 1000 Kriegern, die gen Jütland ruderten, sind die Archäologen durch Hochrechnungen anhand der gefundenen Waffen und der noch unausgegrabenen Flächen gekommen. 1000 kampffähige Männer, die bereit sind, in einen Krieg zu ziehen, sind eine Menge Menschen - vor allem in einer Gesellschaft, die keine Städte kannte und nur wenig Arbeitsteilung. Zu Hause musste fast jeder Mann selbst zusehen, wie er mit den Erzeugnissen seines eigenen Hofes, seines Ackers und seines Viehs die Familie ernährte.
Was erhofften diese Männer sich von der Fahrt nach Süden, für die sie ihr Leben und die Versorgung ihrer Frauen und Kinder riskierten? Welche Person oder welches Ereignis konnte so viele Krieger zu einem derartigen Wagnis mobilisieren? Wer oder was auch immer es war, hinter dem Feldzug stand eine straffe Organisation. Jemand, der den Impuls gab. Jemand, der über die Mittel verfügte, die gewaltige Truppe vom Plan zu informieren, sie anzufeuern, zu versammeln, mit Waffen zu versorgen und schließlich auf den Weg zu bringen. Tausend Männer, die zuvor vereinzelt auf weit voneinander entfernten Höfen über ein großes Siedlungsgebiet verteilt lebten. Wer es war, wissen wir nicht. Nur, was er gehabt haben muss: große Macht.
Aber wie die Welt aussah, von der aus die Krieger aufgebrochen waren, lässt sich beschreiben. Sie unterschied sich nämlich - im Gegensatz zum Aufbau des Heeres - deutlich von der römischen. "Archäologisch gelingt die Unterscheidung von Römern und Germanen auf den ersten Blick sehr gut", erklärt Meyer. "Germanen haben keine Städte, sondern wohnen in Weilern mit einfachen Häusern, sie bauen nicht mit Steinen oder Ziegeln, sie betreiben eine ganz andere Art der Landwirtschaft und kennen in der Regel keine zentralisierte Produktion."
Die germanische Welt sah aus wie in Feddersen Wierde. Der Marschboden dort vor der Wesermündung ist dicht, feucht und enthält kaum Sauerstoff: einer der Lieblingsböden von Archäologen, denn ohne Sauerstoff können die organischen Reste sich nicht zersetzen. So blieb in Feddersen Wierde ein germanisches Dorf genau so zurück, wie die Sachsen es verließen, als sie im 5. Jahrhundert nach Britannien aufbrachen, um dort gemeinsam mit den Angeln ein neues Leben zu beginnen.
Alle wohnten gemeinsam in sogenannten Wohnstallhäusern
Bei den Ausgrabungen der Niedersächsischen Landesstelle für Marschen- und Wurtenforschung in den Jahren zwischen 1955 und 1963 fanden die Archäologen Häuser, Zäune, Werkzeuge, Geschirr - eine komplette Siedlung, fast unversehrt.
Das Leben war eng in Feddersen Wierde. Man rückte dicht zusammen: Mensch an Mensch, Tier zu Tier, auch Mensch neben Tier. Alle wohnten gemeinsam in sogenannten Wohnstallhäusern. Der Bauplan war meist der gleiche: Zwei parallele Reihen von Eichenpfosten stehen in etwa drei Meter Abstand voneinander. An dieses Mittelschiff schließt sich jeweils links und rechts ein in der Regel 1,5 Meter breites Seitenschiff an, das an einer Reihe von Außenpfosten endet.
Nicht nur längs, auch quer ist das Haus in drei Teile gegliedert. Der vordere Teil ist der Wohnbereich. Hier, um die zentrale Feuerstelle, spielt sich das Leben ab: Die Familie isst, trinkt, schläft, erzählt sich Geschichten. Damit die Flammen der Feuerstelle nicht auf die tragenden Pfosten des Mittelschiffs überspringen, sind diese hier weiter auseinandergerückt.
An den Wohnteil schließt sich der schmalere Wirtschaftsbereich an. Hier lagern Geräte, vielleicht auch kleine Vorräte. Wer in das Haus eintritt, muss als Erstes diese Zone passieren, denn hier liegen die beiden Türen. So gelangt keine Zugluft in den Wohnbereich oder in den dritten, hinteren Teil des Hauses, den Stall. Das Kleinvieh lebt hier in Verschlägen, die Kühe stehen paarweise in Boxen zwischen den Pfosten. Ihre Köpfe zeigen zur Wand, das Hinterteil ragt zum Mittelgang. So lässt sich der Stall gut sauber halten: Der Mist kann leicht über die Stallgasse nach draußen geschoben werden.
Dieses Bauschema war bei den Germanen der beliebteste Häusertyp. Von Skandinavien bis ins Mittelgebirge findet sich in den kleinen Dörfern meist das dreischiffige Wohnstallhaus als Grundmodell. Damit im Winter die schneidenden Sturmböen keine Angriffsfläche finden und die Innenräume auskühlen, richten die Germanen ihre Häuser mit der Schmalseite in den Wind; je nach Standort sind die Häuser also meist in west-östlicher oder nordwest-südöstlicher Richtung orientiert.
Anders als die Römer nutzen die Germanen keine Steine zum Bau ihrer Häuser. Zwischen die tragenden Holzpfosten schlagen sie weitere Stangen ein und flechten dann Weidenzweige dazwischen. Diese Flechtwände verputzen sie mit Lehm. Eine praktikable Konstruktionsart, denn alles Nötige fand sich in unmittelbarer Umgebung, ließ sich leicht transportieren und verarbeiten.
In der Breite unterscheiden sich die Häuser kaum
Nur heutigen Archäologen macht diese Materialwahl ihre Arbeit denkbar schwer. Längst ist das organische Material der meisten Wohnstallhäuser vergangen; wenig mehr ist von ihnen übrig als mühsam zu entdeckende dunkle Schatten im Boden. Nur an Orten, wo der Boden so feucht und ungestört ist wie auf der Feddersen Wierde, überdauerten die fragilen Flechtwände die Jahrhunderte.
In der Breite unterscheiden sich die Häuser kaum. Und auch die Länge des Wohnteils bleibt erstaunlich konstant über alle Epochen und Regionen. Die Familie, ob arm oder reich, begnügt sich mit einer Raumtiefe, die das zentrale Herdfeuer noch gut warm hält. Für den Rest des Hauses aber gilt: Zeige mir deinen Stall, und ich weiß, wie reich du bist. Je länger der hintere, tierische Trakt des Hauses, desto mehr Vieh stand darin - desto wohlhabender war der Hausbesitzer.
Auf der Geestinsel Flögeln, ganz in der Nähe der Marschsiedlung Feddersen Wierde, lässt sich auch beobachten, wie die Häuser im Lauf der Jahrhunderte länger wurden. Im 1. Jahrhundert nach Christus maßen sie im Durchschnitt noch 20,3 Meter. Im 2. Jahrhundert waren es schon 30,85 Meter, im 3. Jahrhundert stolze 33,9 Meter. Im 4. Jahrhundert schließlich, unmittelbar bevor die Siedlung aufgegeben wurde, erreichten die Häuser im Durchschnitt gar die Prachtlänge von 38,1 Metern.
Spannender als jede literarische Familiensaga ist, was sich an den Veränderungen der Häuser auf der Feddersen Wierde ablesen lässt.
Als die ersten fünf Familien in die Marsch kamen, um hier draußen an der Küste ein neues Dorf zu gründen, scheinen alle untereinander mehr oder minder gleichberechtigt gewesen zu sein. Ihre Häuser standen zu ebener Erde und waren etwa gleich groß. Doch bald schon erzwangen die Sturmfluten, die immer wieder das Dorf überspülten, erste Veränderungen.
Die Bewohner beginnen, ihre Häuser auf Wurten (Warften) zu errichten. Sie untermischen den Kleiboden der Marsch mit Stallmist und schichten Hügel auf, auf deren Kuppen ihre Häuser nun über den Fluten stehen, wenn die Frühjahrs- und Herbststürme das Wasser der Nordsee die Wesermündung hinauf ins Inland drücken. Trotz solcher Bedrohung scheint das Leben in der Marsch attraktiv zu sein; bald schon sind es elf Höfe.
An der Wende zum 2. Jahrhundert wird aus den Einzelhöfen ein Dorf. Die Bewohner füllen die Entwässerungsgräben zwischen den Wurten auf und erhöhen das Areal zu einem einzigen großen Siedlungshügel. Auf der dem Wasser zugewandten Seite des Hügels planieren sie die Fläche zu einem freien Platz. Ihm sind künftig alle Häuser zugewandt. Statt Gräben trennen nun Zäune die einzelnen Grundstücke voneinander.
Wer gab den Anstoß zu diesem Umbau? War es eine Gemeinschaftsentscheidung? Oder hatte sich in dem anfangs so demokratisch anmutenden Dorf mittlerweile eine Einzelperson über die anderen aufgeschwungen und die Entscheidungsgewalt in die Hand genommen?
Tatsache ist, dass vom 2. Jahrhundert an ein Hof sich deutlich von den übrigen unterscheidet. Er liegt in der Mitte des Dorfes. Im Stall des Haupthauses ist Platz für 32 Rinder, doch zu dem Gehöft zählen eindeutig noch mehrere kleinere Wohnstallhäuser sowie ein Gebäude, das nur für handwerkliche Arbeiten genutzt wird.
Bald entsteht auf dem Gelände noch ein weiteres ungewöhnliches Haus: eine große Halle, in der weder Vieh steht noch handwerklich gearbeitet wird. Wozu dient sie dann? Empfangen die Menschen der Feddersen Wierde hier Gäste aus anderen Dörfern? Halten sie hier ihren Dorfrat ab? Wird hier gefeiert und getanzt? Jedenfalls ist ihnen diese Halle so wichtig, dass sie das Gebäude noch einmal mit einem eigenen kleinen Deich schützen.
Im 3. Jahrhundert weitet das Dorf sich nach Norden aus. Auf dem neuen Land entstehen weitere Werkstätten. Wo die bisherigen standen, werden Vorratsspeicher gebaut. Ein zweites Hallenhaus kommt hinzu, außerdem ein offener Platz vor der Versammlungshalle. Auf diesem Platz steht eine Tränke - möglicherweise wurde hier Viehmarkt abgehalten. Kamen nun auch Menschen von weiter her auf die Feddersen Wierde, um mit den Bewohnern Handel zu treiben? Falls das stimmt, fand der Markt jedenfalls direkt vor der Haustür des großen Herrenhofes statt.
Der Reichtum dieser Familie ist auch nicht mehr nur an der Stalllänge abzulesen; das Innere des Hauses ist ebenfalls prächtig ausgestattet. Wer in das Haus hinein durfte, konnte die aufwendig verzierte Feuerstelle des Hauses bewundern. Unter der Feuerstelle war ein Opfertier, ein Schwein, deponiert worden.
Unbekannt freilich ist, welchen Titel der Hausherr trug. War er lediglich Dorfvorsteher? Oder hatte er das Sagen über ein größeres Gebiet, etwa mehrere Dörfer? Spielte er gar eine Rolle in der Leitung seines Stammes, der Chauken, die zu beiden Seiten der unteren Weser siedelten? Hatten seine Vorfahren auf der Seite von Arminius in der Varusschlacht gekämpft? Bezog er - was archäologisch auch nur schwer nachzuweisen wäre - seine Einkünfte gar nicht nur aus dem Ackerbau und der Viehwirtschaft, sondern ebenfalls, wie einige historische Quellen den Chauken nachsagen, aus der Seeräuberei?
Seinem Dorf jedenfalls ging es gut. Im 3. Jahrhundert standen 26 Betriebe auf der Wurt, bevölkert von wahrscheinlich rund 300 Menschen, die 450 Stück Großvieh besaßen. Doch allmählich änderten sich die Aktivitäten der Dorfbewohner. Statt ihre Rinder im Sommer zum Grasen auf die Prielränder zu schicken und den Kleiboden zu bewirtschaften, verdienten sie ihren Unterhalt zunehmend als Handwerker und Händler.
Im 4. Jahrhundert wurden nur noch 240 Stück Großvieh auf der Feddersen Wierde gehalten. Von allen Wohnstallhäusern hatte lediglich der Herrenhof noch ebenso viele Stallplätze für Rinder wie zuvor. Aus den ehemaligen Bauern waren feine Herrschaften geworden. Sie aßen ihr Essen mittlerweile aus Schüsseln, die aus dem großen Römischen Reich in die kleine Ansiedlung gekommen waren. Die Römer indes nannten sie nicht mehr Chauken, sondern bezeichneten sie zusammen mit weiteren Stämmen der Region nun als Sachsen.
Wo sind all die Toten hin?
Um das Jahr 450 nach Christus dann packten die Bewohner der Feddersen Wierde ihr Hab und Gut zusammen. Vielleicht war es ein Befehl, den der Herr des Haupthofes an seinem prächtig verzierten Herdfeuer aussprach. Vielleicht war es ein Beschluss, den alle Bewohner gemeinsam in der Versammlungshalle diskutiert hatten. Vielleicht war es auch der Erlass eines weiter entfernt lebenden Stammesführers, dem man sich fügte. "Go West, young man, go west!", hieß er. Die Sachsen, und mit ihnen die Bewohner der Feddersen Wierde, machten sich auf nach Britannien.
Ein weiteres großes Geheimnis hat die Marsch noch nicht preisgegeben: Wo sind all die Toten hin? Tausende müssen es gewesen sein, die im Laufe der Jahrhunderte auf der Wurt lebten und starben. Doch ihre Gebeine sind spurlos verschwunden, außer von ganz wenigen, die bei den Häusern bestattet wurden. Eines dieser Gräber liegt am Rande des Herrenhofes. Die Knochen wurden in einem kleinen Totenhaus bestattet, direkt über der Leiche eines Pferdes. Welche Ereignisse, welche Entschlüsse, die er zu Lebzeiten fasste, machten den Verstorbenen so wichtig, dass die Menschen ihn auch nach seinem Tod dicht bei sich haben wollten? Das verraten die Funde nicht.
Friedhöfe anderer Siedlungen erzählen mehr über die Totenbräuche und damit auch über das Leben der Germanen. Dabei stellte sich bald heraus: Tacitus hatte keine Ahnung.
Die Germanen seien Menschen mit "ungeheuren Körpern" gewesen, schrieb der römische Historiker. Ganz so war es nicht: "Die anthropologische Untersuchung der Leichenbrände und Skelette zeigt keineswegs, dass Germanen besonders groß waren", widerspricht Archäologe Meyer. Tote würden ausschließlich verbrannt, behauptet Tacitus. Von wegen: Die Germanen taten so ziemlich alles, was man mit Toten tun kann. Einige wurden verbrannt, andere nicht. Einige wurden in Urnen bestattet, andere in Särgen, Booten, Eimern, auf Brettern oder auch einfach nur im Boden. Auch dass Toten Waffen mit ins Grab gegeben werde, ist so pauschal falsch. Es kommt zwar gelegentlich vor, ist aber nicht die Regel.
Noch in einem anderen Punkt hat Tacitus an der Wahrheit vorbei geschrieben: Germanen, erklärt er, machten sich nichts aus Silbergeschirr. "Dass bei den Germanen Gefäße aus Silber - die von den Römern stammen - ebenso gering in Wert stehen wie Tongefäße, kann anhand der Ausstattung der Fürstengräber widerlegt werden", kontert Meyer.
Ein Paradefall ist mit Sicherheit das Grab des sogenannten Fürsten von Gommern. Ehrenamtlichen Denkmalpflegern war im Jahr 1990 ein merkwürdiger Haufen Steine auf dem Gerstenberg bei Gommern in Sachsen-Anhalt aufgefallen. Darunter lag in einer zwei mal drei Meter großen hölzernen Grabkammer ein für die damalige Zeit sehr großer Mann - mit seinen Schätzen. Vieles davon stammte aus dem Römischen Reich: Münzen, ein wertvolles Trinkglas oder auch der silberne Schildbuckel. Dieser war tatsächlich einst ebenfalls ein Trinkgefäß gewesen; umgestülpt und auf der Mitte des Schildes befestigt, machte er sich nun überaus prächtig.
Bemalt war der Schild leuchtend rot - mit Zinnober, das es damals nur auf der Iberischen Halbinsel gab. Die kontrastierende weiße Farbe hingegen war echte Kreide von der Ostsee. Die Anthropologen konnten nachweisen, dass der Besitzer mit etwa 25 bis 30 Jahren starb. Aber war er tatsächlich ein Fürst, ein Herrscher? Oder lediglich ein reicher Mann, der viel gereist war oder regen Handel mit anderen Teilen der bekannten Welt betrieben hatte?
Archäologen erleben auf germanischen Friedhöfen immer wieder Überraschungen
Dass Knochen allein nur wenig über die soziale Stellung eines Toten aussagen, zeigt eindringlich der Friedhof von Rebenstorf im Landkreis Lüchow-Dannenberg. Obwohl die Archäologen hier über 1000 Brandgräber gezählt haben, fanden sie lediglich drei Beigaben: einen silbernen Halsring, einen Fingerring aus Silber und einen bronzenen Trinkhornbeschlag. Darf man daraus ableiten, dass in Rebenstorf alle an der Armutsgrenze lebten? Wohl kaum.
Ähnlich dünn ist das Eis, wenn es um die Interpretation der Funde selbst geht. Für wen und wie wurden Grabbeigaben ausgewählt? Entschieden religiöse Motive? Oder Vorlieben? In einem reichen Grab im dänischen Hoby auf der Insel Lolland beispielsweise fanden die Archäologen in einem germanischen Grab - wiederum Tacitus zum Trotz - kostbares römisches Silbergeschirr. Zwei Becher sind reich mit Szenen aus der Ilias von Homer verziert; auf einer Schale reckt sich die nackte Venus. Ein Indiz, dass der Tote der römischen Liebesgöttin huldigte oder sich gut in der griechischen Sagenwelt auskannte? Eher unwahrscheinlich.
So erleben Archäologen auf germanischen Friedhöfen immer wieder Überraschungen. Ganz in der Nähe von Feddersen Wierde liegt die Dorfwurt Fallward. Auf dem zugehörigen Friedhof fand sich ein zentrales Grab innerhalb eines Kreisgrabens. Der Tote war den Bewohnern offenbar sehr wichtig gewesen: Er lag in einem Holzsarg unter dicken gekreuzten Balken. Um den Sarg herum hatten sie allerlei Holzgegenstände aufgestellt: einen Hocker, einen Tisch, Gefäße.
Im Sarg selbst konnten die Ausgräber den Körper des Toten zunächst gar nicht ausmachen, so dick war er in kostbare Stoffe gehüllt. Als sie dann Schicht für Schicht entfernten, befand sich darunter gar kein großer Krieger, sondern ein zierliches Mädchen. Warum bekam sie als einzige Bewohnerin der Fallward so ein prächtiges Begräbnis? Dass die Kleine eine besondere Führungsrolle auf der Wurt spielte, ist jedenfalls eher unwahrscheinlich.
Im Krieg, in ihren Häusern oder auf ihren Friedhöfen bleiben die Germanen also auch aus archäologischer Sicht das, was die Nachbarvölker mitunter bis heute von ihnen denken: ziemlich schwer zu fassen.
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