44 Bahnsteige auf 19 Hektar und mehr Touristen als die Chinesische Mauer: Das Grand Central Terminal ist 100 Jahre alt und noch immer der weltgrößte Bahnhof. Gebaut wurde das New Yorker Wahrzeichen nur wegen eines schrecklichen Unglücks - dass der Bau noch heute steht, verdankt er einer First Lady.
Es beginnt mit einer Tragödie. 8. Januar 1902, 8.20 Uhr: In einem dampfverpesteten Tunnel unter der Park Avenue missachtet der Fernzug Nr. 118 aus White Plains ein Signal und rast in einen Vorortzug. 17 Menschen kommen um, 36 erleiden teils schwerste Verletzungen. Die letzten Leichen können erst am späten Abend geborgen werden. Es ist das schlimmste Zugunglück in der Geschichte Manhattans.
"Die Opfer wurden in den Trümmern zerquetscht, zwischen Heizkessel und Waggons eingeklemmt oder vom Dampf verbrannt", beschreibt die "Chicago Daily Tribune" damals die Szene. Die meisten Toten sind Männer; als einzige Frau stirbt die Witwe Amanda Howard. Zwar überlebt sie den Aufprall unter einem Sitz eingeklemmt. Doch als Polizisten sie mit Äxten befreien wollen, explodiert ein Dampfrohr und verbrüht sie.
Der Horror hat Folgen. Erstens: Dampfloks sind in Manhattan fortan verboten. Zweitens: New Yorks erst drei Jahre alter Hauptbahnhof, ein Labyrinth aus Schuppen, Gleisen und Tunneln im Herzen Manhattans, wird völlig neu gebaut.
Zehn Jahre dauert es, bis es schließlich fertig ist: das Grand Central Terminal - bis heute der größte, verkehrsreichste und wohl berühmteste Bahnhof der Welt. Der riesige Prachtbau im Beaux-Arts-Stil, der an diesem Samstag sein 100-jähriges Bestehen feiert, ist eine globale Ikone.
Bahnhof der Superlative
Die Zahlen sprechen für sich: Fast 100 Millionen Passagiere steigen jedes Jahr an einem der 44 Bahnsteige ein. 22 Millionen kommen als Touristen, das sind mehr Besucher als Notre-Dame oder die Chinesische Mauer verzeichnen können. 19 Hektar Fläche hat der Riesenbahnhof, dreimal so viel wie Ground Zero. Und natürlich die imposante Wandelhalle, deren 40 Meter hohes Gewölbe mit exakt 2599 Sternen verziert ist, 60 davon illuminiert.
Das klingt selbst in den heutigen Zeiten der schlagzeilenträchtigen Show-Architektur noch spektakulär. Damals war es ein Weltwunder.
Den Einfall zu einem neuen Zentralbahnhof hat William Wilgus, der Chefingenieur der New York Central Railroad. "Es war die gewagteste Idee, die ich je hatte", zitiert ihn Sam Roberts in seinem just erschienenen Jubiläumsband "Grand Central: How a Train Station Transformed America". Gewagt, in der Tat. Wilgus, damals erst 37, hat eine Vision: Er will die rußige, rauchende Industrielandschaft durch eine Kathedrale des Transports ersetzen.
Da sollten elektrische Eisenbahnen auf zwei Etagen fahren, eine für Vorortzüge, eine für Fernzüge. Das gesamte, bisher oberirdische Schienengewirr sollte unter die Erde verlegt und überdeckelt werden, von der 42nd Street bis hinauf zur 56th Street. Darüber würde ein ganz neues Viertel auf der East Side entstehen.
Baukosten nach heutiger Rechnung: zwei Milliarden Dollar
"Dear Sir", schreibt Wilgus im März 1903 an seinen Chef William Newman, den Präsidenten der Eisenbahngesellschaft. Seine Terminal-Pläne würden diese bisher so hässliche Ecke Manhattans "wahrscheinlich zur attraktivsten Örtlichkeit in ganz New York City machen".
Zugleich sichert sich Wilgus die Zustimmung des Industriellen Cornelius Vanderbilt, dem Bahngesellschaft und Baufläche gehören. Der "Commodore", einer der reichsten Amerikaner, hat den alten Bahnhof mit dem Park-Avenue-Tunnel errichten lassen und fühlt sich für das Unglück von 1902 mitverantwortlich. Als Kosten veranschlagt Wilgus 35 Millionen Dollar. Am Ende werden es 80 Millionen, womit das Projekt nach heutiger Rechnung rund zwei Milliarden Dollar gekostet hätte.
Im Juni 1903 genehmigt die Railroad-Leitung das Vorhaben. Unter den schnauzbärtigen Vorstandsherren, die ihren Segen geben: William Rockefeller und J.P. Morgan, zwei der bekanntesten Finanz-Patriarchen Amerikas.
Es wird die größte Baustelle ihrer Tage. Mitten in Manhattan entsteht eine gigantische Grube, zehn Stockwerke in die Tiefe. 2,5 Millionen Kubikmeter Erde werden dazu ausgehoben, 200 Gebäude abgerissen, 120.000 Tonnen Stahl verschweißt, 60 Millionen Tonnen Beton gegossen, 50 Kilometer Schienen verlegt. Rund 10.000 Arbeiter rackern rund um die Uhr.
Über den roten Teppich in den Zug
Am anderen Ende Manhattans entsteht zur gleichen Zeit ein anderer Großbahnhof, die Pennsylvania Station der rivalisierenden Pennsylvania Railroad. Der nicht minder pompöse Entwurf stammt von der berühmten Architekturfirma McKim, Mead & White, die beim Wettbewerb um Grand Central leer ausgegangen ist. Penn Station wird 1910 eingeweiht, trägt die Krone aber nur kurz.
Grand Central eröffnet am Sonntag, den 2. Februar 1913, um Punkt Mitternacht. Der erste Zug, der abfährt, ist der Boston Express Nr. 2, um 0.01 Uhr. "Eine architektonische Leistung fürs 20. Jahrhundert", prahlen Zeitungsinserate. Hauseigene Broschüren sprechen von einem "Gedicht in Stein".
Mehr als 150.000 Schaulustige strömen allein am ersten Tag durch Grand Central. Dessen Grandeur stellt Penn Station locker in den Schatten: Der Bahnhof ist doppelt so groß, hat doppelt so viele Bahnsteige und enthält, so Roberts, "doppelt so viel Mauerwerk und fast doppelt so viel Stahl". Die Hälfte der Baukosten entfiel allein auf die Halle, die fast 7500 Quadratmeter groß ist.
Sie hat Wartesäle mit Eichenparkett, einen Friseursalon für Damen, einen Herrencoiffeur sowie - wie die "New York Times" begeistert berichtet - separate Räumlichkeiten "für Immigranten und Arbeiterbanden". Damit diese nicht das Reiseerlebnis der feinen Gesellschaft beeinträchtigen.
Luxus überall: Die Passagiere des 20th Century Limited, des vornehmsten Schlafwagenzugs Amerikas, der zwischen New York und Chicago verkehrt, schreiten über einen roten Teppich zum Gleis 34.
Sternenhimmel "aus der Sicht Gottes"
Die goldene Uhr in der Mitte der Halle wird zum Treffpunkt für Reisende und Liebende. Darüber spannt sich das Deckengewölbe, dessen gemalter Sternenhimmel der astronomischen Realität entspricht - wiewohl spiegelverkehrt. Warum, darüber streiten sich die Gelehrten bis heute. Entweder haben die 50 Maler die Skizze falsch übertragen. Oder sie malten, wie die Vanderbilts beharrlich behaupteten, das Firmament "aus der Sicht Gottes".
Bis heute fasziniert Grand Central mit skurrilen Details. Die "Flüstergalerie", eine Passage, deren Akustik selbst Raunen bis zu zehn Meter weit trägt. Die massive Uhr über der Frontfassade zur 42nd Street, vier Meter im Durchmesser. Das geheime Tiefgeschoss, das die Haupttransformatoren beherbergt und bis heute auf keinem Lageplan eingezeichnet ist.
Jahrzehntelang hält sich Grand Central als Symbol für den rasenden, doch zugleich majestätischen Pulsschlag New Yorks. So wird es zum stillen Star vieler Hollywood-Filme: "In 80 Tagen um die Welt", "Cotton Club", Alfred Hitchcocks Klassiker "Der unsichtbare Dritte".
Zwei Frauen, ein Bahnhof
Doch nur mit Not entkommt der Bahnhof dem Schicksal der Penn Station, die 1963 von Stadtplanern abgerissen wird, um für den modernen Madison Square Garden Platz zu schaffen. Auch mit Grand Central haben sie Unsagbares vor: Der Bau soll unter einem 55-stöckigen Wolkenkratzer verschwinden.
Viele New Yorker sind entsetzt. Allen voran die frühere First Lady Jackie Kennedy Onassis, die sich mit allen Mitteln für den Erhalt einsetzt. Jahrzehntelang wird vor Gericht um den Denkmalschutz gestritten. Doch erst 1978 urteilt der Supreme Court, der Oberste US-Gerichtshof, zugunsten von Grand Central.
Und so ist Grand Central nicht nur das Werk des Ingenieurs William Wilgus. Sondern auch, direkt und indirekt, das Werk von zwei Frauen - eine, die am Anfang ihr Leben ließ, und eine, die mit ihrem Ruf für den Bahnhof kämpfte.
"Eine mutige Frau erhob sich aus Protest", steht auf einer Bronzetafel zu Ehren von Onassis in der Vanderbilt Hall, einer einstigen Wartehalle, jetzt Veranstaltungsort für Ausstellungen: "Die New Yorker sind ihr ewig dankbar." Die meisten hasten achtlos vorbei.
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