Montag, 12. August 2013

+++Liebe Deutsche, wie geht gutes Regieren? - Oder afghanische Studenten in Erfurt+++


Ihr Land wird wiederaufgebaut, wie es künftig aussehen soll, wollen junge Afghanen in Deutschland lernen: In Erfurt studieren sie gute Regierungsführung. Danach planen sie die Rückkehr - obwohl Bier, Brot und Bratwurst hier so viel besser schmecken.


Musas Wand ist bunt. Postkarten und Bilder aus aller Welt hängen über dem Schreibtisch und dem Bett. "Unfuck the world" steht auf einem Flyer, den Slogan hat er sich für eine Protestaktion in Berlin ausgedacht. Rebellisch wirkt Musa, 28, kurze braune Haare, grün-kariertes Hemd und Jeans, jedoch nicht. Wenn er mit ruhiger Stimme spricht, ist er zurückhaltend höflich, fast schüchtern.


Musa kommt aus Kabul, Afghanistan. Seit zwei Jahren studiert er in Erfurt an der Willy Brandt School den Master-Studiengang Public Policy and Good Governance. Mit einem Stipendium des DAAD kamen er und ein Dutzend weitere Afghanen 2011 nach Deutschland. Good Governance Afghanistan hieß der Studiengang zu Beginn, nach einem halben Jahr wurde das Pilotprojekt ausgeweitet. Das Studium soll junge Menschen wie Musa zur künftigen Führungselite ihres eigenen Landes ausbilden.
Musa studiert gerne in Deutschland. "Das Leben hier ist leichter", sagt er. In Afghanistan studierte er Medizin in Khost, südöstlich von Kabul. Dort habe er das echte Afghanistan erlebt. Wenn nach einem Selbstmordattentat fast hundert Menschen ins Krankenhaus kamen, er mit neun Kommilitonen und zwei Ärzten völlig überfordert war, konnte er danach oft tagelang nicht schlafen. Statt als Arzt will er nach dem Master in Deutschland nun im öffentlichen Gesundheitssektor arbeiten. In Afghanistan natürlich.

An seiner Wand hängen zwischen Postkarten und Flyern auch Fotos seiner vier Kinder. Das älteste ist acht, das jüngste ein Jahr alt, jeden Morgen wird er von ihnen via Skype geweckt. Zum Vermissen bleibe nicht viel Zeit, sagt er, aber er besucht seine Familie, so oft es geht.

Wie geht "gutes Regieren"?

Doch wie lernt Musa, sein Land in Zukunft "gut zu führen"? Auf dem Stundenplan stehen etwa "Bürokratieaufbau in fragilen Staaten", "Korruptionsbekämpfung" oder "neue Formen von Governance". "Gutes Regieren kann man aber nicht einfach von Land A bis Z definieren", sagt Florian Hoffmann vom Lehrstuhl für Public Policy, "wir arbeiten mit einem Baukasten, dessen einzelne Elemente die Studenten dann in ihrem Land anwenden können." Besonders das Engagement der afghanischen Studenten sei beeindruckend. "Die wollen möglichst viel aus ihrem Studium rausholen, dann zurück und etwas aufbauen, da ist ein unheimlicher Drive zu spüren", sagt Hoffmann.

Auch Musa hat konkrete Vorschläge für die Zukunft Afghanistans: lokale Verwaltungen stärken, Korruptionsbekämpfung, Strafverfolgung früherer Taliban-Täter und eine Regierungsbildung mit allen Parteien. In Erfurt beschäftigt ihn aber nicht nur die Politik. Was er an den Deutschen möge? Natürlich die drei Bs: Bier, Bratwurst und Brot. Und die direkte Art. "Hier sagt jeder, was er denkt. In Afghanistan sagen wir oft eine Sache, meinen aber eine andere." Wer den Nachbarn auf einen Tee einlade, meine das nur rhetorisch. "Die Deutschen nehmen diese Einladung sofort an."


Zu einer Tasse Schwarztee reicht Musa getrocknete Früchte von seiner Tante aus Kabul. Sein Kommilitone Aqil, 28, sitzt auf einem kleinen Holzhocker neben der grauen Couch, sie diskutieren über die Bedeutung der Bonn-Konferenz für Afghanistan. Auch ihre Kommilitonin Bilquees, 33, diskutiert mit. Die aufgeweckte Frau mit schulterlangen schwarzen Haaren erzählt gerne über ihr Land. Hier sei das Leben ruhiger, sagt sie. "Bei uns sind die Straßen vollgestopft mit Menschen, hier in Erfurt sieht man manchmal stundenlang keine Menschenseele."

"Wer steht noch für unser Land ein, wenn wir alle wegbleiben?"

Wie ihre Kommilitonen möchte auch sie nach dem Studium in ihrer Heimat arbeiten, im Bildungssektor. Denn: "Wenn wir alle wegbleiben, wer steht dann noch für unser Land ein?" Zurückkehren will sie aber nicht um jeden Preis. Das Wort "Post-2014" hängt oft in der Luft. Keiner weiß, was kommt, wenn die ausländischen Truppen im kommenden Jahr abziehen.
Musa, Aqil und Bilquees setzen auf eine neue Generation und Bildung. Während unter der Taliban-Herrschaft der Schulbesuch für Mädchen verboten war, gingen 2012 mehr als sieben Millionen Kinder zur Schule - davon ein Drittel Mädchen. Auch das Hochschulsystem ist mit 13 staatlichen und neun privaten Hochschulen im Aufbau. Das Studium sei kostenlos, sagt Musa. Allerdings reichten die Studienplätze nicht aus. "Gerade mal ein Drittel der etwa 100.000 Bewerber konnte letztes Jahr aufgenommen werden." Master-Studiengänge gebe es fast gar keine.

Deshalb kamen Musa und seine Kommilitonen nach Deutschland, das längst zu ihrer zweiten Heimat geworden ist. Neben dem Baukasten für gutes Regieren werde Musa sicherlich seine Wand voller Erinnerungen mitnehmen, sagt er. Die Flyer, die Fotos, die drei Bs und die Postkarten aus Berlin, seiner Lieblingsstadt.

Keine Kommentare: