Sturz eines Denkmals: Vor 60 Jahren bestieg der Nepalese Tensing Norgay zusammen mit Edmund Hillary als erster Mensch den Gipfel des Mount Everest. Doch dann beging der neue Volksheld einen folgenschweren Fehler - und wurde von seinen Landsleuten beschimpft und bespuckt.
Er war ein Held. Unanzweifelbar ein Held. Und er ist ein Beispiel dafür, warum - wie es in einem Sprichwort aus Indien heißt - auch Helden auf die Knie fallen.
Der Sherpa Tensing Norgay hat den Mount Everest bezwungen. Aber er war nicht irgendeiner dieser, wie er verächtlich sagte, Klettertouristen, die inzwischen zuhauf den höchsten Berg der Welt erklimmen und ganze Müllberge hinterlassen. Tensing, Spitzname "Tiger", war mit dem Neuseeländer Edmund Hillary der Erste, der vor nun genau 60 Jahren den Everest bestieg, den die Nepalesen "Mount Sagarmatha" nennen.
Ein Held für alle Zeiten also. Wirklich?
Triumphale Rückkehr
Einmal im Jahr kam Tensing Norgay in Nepals Hauptstadt Katmandu, um Hof zu halten. Dann stolzierte er auf seinen unglaublichen O-Beinen durch die verwinkelten Gassen, besuchte die Gewürzhändler, befragte die Juweliere an ihren klapprigen Holzständen nach ihren neusten Kreationen, umgarnte mit seinem Lächeln die Frauen - weswegen ihn seine Gattin Daku selten alleine reisen ließ.
Er wurde jedes Mal sofort erkannt, auch als sein Sieg über den höchsten Gipfel der Erde schon Jahrzehnte zurücklag. Scheinbar war und blieb er der "Tiger" - modisch-sorgfältig gestutztes Bärtchen, die tiefbraune Haut ohne eine einzige Falte, der sehnige Körper stets durchtrainiert. Wie alt? Niemand wusste das so genau zu sagen. Auch er nicht - weil die Menschen in seiner Heimat, dem Khumbu Valley unweit des Mount Everest nicht gerade einen Geburtsschein mit sich herumzutragen pflegen. Also beschloss Tensing Norgay einfach, dass jener 29. Mai 1953, als er den Berg der Berge bezwang, sein 40. Geburtstag sein würde. Was spielte das auch für eine Rolle bei einem Helden...
Triumphal hatten ihn seine Landsleute in Katmandu empfangen, als er vom Heiligen Berg zurückkehrte: All die Blumenkränze, die er nach Landessitte umgelegt bekam, die Orden, die kleinen und großen Geschenke. Für die Nepalesen war ihr Mann selbst auf dem Gipfel der Everest-Allererste - und nicht der Neuseeländer Hillary. Die Logik ihrer "Beweisführung": Auf dem historischen Gipfelfoto mit einem total vermummten Triumphator seien, so sagten die Nepalesen, nur Fußspuren eines Mannes zu sehen. Zudem müsse Tensing Norgay allein deswegen der Vermummte gewesen sein, weil er nie gelernt habe, zu fotografieren.
Tensing hätte also in den Herzen der Nepalesen auf ewig einen unverrückbaren Platz einnehmen können. Doch dann beging er bald nach seinem Triumph 1953 einen großen Fehler.
Erstmals öffentlich sprach er darüber 25 Jahre später vor Reportern im üppig wuchernden Garten des "Annapurna Hotel" in Katmandu: Hier trafen sich am 29. Mai 1978 auf Einladung des Königs von Nepal beinahe all diejenigen, die bis dahin den Mount Everest bezwungen hatten - genau ein Vierteljahrhundert nach der historischen Erstbesteigung. Zu der Feier der 54 Berghelden waren auch etliche Journalisten gekommen, die meisten aus Nepal und Indien. Der Autor war als einziger Deutscher unter ihnen und kann sich noch heute genau an die emotionale Rede Tensings erinnern.
"Sie haben mich Verräter genannt", sagte Nepals bekanntester Bergsteiger demnach bitter am Abend der Jubiläumsfeier - und das Stimmengewirr um ihn herum verstummte schlagartig.
"Meine eigenen Leute haben mich Verräter genannt." Seine laute Stimme schwankte zwischen Anklage und Wehklage. Ein Italiener hatte ihn gerade auf die "Zeit danach" angesprochen - jene Tage nach dem Gipfelsturm. Warum habe er stets solch ein Geheimnis darum gemacht und nur ungenau Auskunft gegeben? Die Bemerkung des italienischen Bergsteigers klang wie ein Vorwurf.
Der Volksheld wird bespuckt
"Wissen Sie, wer in diesem Land außer mir sonst noch Verräter genannt wird?" Tensing wartete keine Antwort ab. "Nur noch Verbrecher." Niemand auf der Terrasse bewegte sich. Und dann bekamen die Gäste vom Star-Sherpa die Erklärung nachgeliefert, was ihn in seinem Nepal fast zu einem Aussätzigen hatte werden lassen: Der indische Premier Pandit Nehru hatte Tensing unmittelbar nach dessen Everest-Triumph "abgeworben", indem er ihm die Direktion des "Himalaya Instituts für Bergsteiger" im indischen Darjeeling anbot. Tensing nahm an, schließlich war dieses eine gute Möglichkeit, mit dem frischen Ruhm gutes Geld zu verdienen. Doch beim Abschied auf dem Flughafen von Katmandu wurde der Volksheld von seinen Landsleuten dafür angespuckt.
"Sie müssen sich vorstellen: ein Mann aus dem Khumbu-Tal wird bespuckt. Niemand, nein, wirklich niemand von Ihnen kann sich vorstellen, was das für mich bedeutet hat."
Tensing Norgay dürfte spätestens nach dem Tod seines Förderers Pandit Nehru im Jahr 1964 bedauert haben, das Angebot aus Indien überhaupt angenommen zu haben: Da degradierten die neuen Herrscher Indiens den Sherpa vom Direktor zum einfachen Instrukteur, kürzten seinen Angaben zufolge sein Gehalt und warfen ihn und seine Familie aus der Dienstvilla. Tensings Frau Daku konnte einen Job als Fremdenführerin annehmen, später arbeitete sie sich zur Leiterin des Tourismusbüros von Darjeeling hoch.
Attraktion der Amerikaner
Sie hätten ja nicht gehen müssen, warf der Italiener ein. Nein, hätte er nicht, antwortete Tensing ziemlich beherrscht durch die Zähne. Aber vielleicht könne der eine oder andere nachvollziehen, dass er etwas aus seinem Gipfelruhm hatte machen wollen. Etwas, was ihn nach vorne bringen sollte. Hätte er einfach so in Khumbu bleiben sollen?
Sein neuseeländischer Begleiter Hillary sei doch auch geblieben, entgegnete der Italiener.
"Ja, Hillary ist geblieben", wiederholte Tensing, der seinen Everest-Partner immer noch beim Nachnamen nannte. Doch dann ging ein Ruck durch seine kleine, drahtige Gestalt, so dass das festliche schwarze Mützenschiffchen auf seinen dunklen, leicht eingeölten Haaren für einen Moment bedenklich wackelte. "Manchmal ist er geblieben." Es tat ihm sichtbar gut, diese Einschränkung machen zu können. "Er ist ja zuerst zu seiner Königin nach London gereist und dann nach Hause, nach Neuseeland. Aber es stimmt. Sir Hillary hat viel für mein Tal getan. Das Krankenhaus, das er in Khumbu gebaut hat, das rettet viele."
So würde Tensing jetzt vermutlich auch gerne dastehen. Doch dazu war es zu spät, er war in Darjeeling geblieben und sein Stolz ließ eine dauerhafte Rückkehr nach Nepal nicht zu. In Indien hatte er Aufträge angenommen, um für reiche Amerikaner den Bergführer zu spielen - und er ließ sich auf Gesellschaften wie ein Schauobjekt herumreichen: dieser Mann war auf dem höchsten Gipfel gewesen! Doch der gefallene Held glich dabei eher einem Tiger ohne Krallen.
"Er hätte ein König werden können!"
Ihm muss der Fehler, nach dem Ruhm den falschen Rufen gefolgt zu sein, einige Depressionen eingebracht haben. "Tensing hätte nicht die vielen Menschen gebraucht, die ihn bewundert haben", sagte auf dem Jubiläumsfest 1978 seine Frau Daku, "es hätten ein paar wenige genügt, um ihm einen Weg zu zeigen, auf dem er sich sicherer bewegt hätte." Nuri, ein langjähriger Freund Tensings, fügte ernsthaft hinzu: "Tensing hätte damals in Nepal so was wie ein König werden können."
Schon Jahre vor der Feier hatte der Sherpa seine Ausreise nach Indien bereut. Doch als er der nepalesischen Regierung einmal seine Rückkehr vorschlug ("Ich möchte zurück ins Tal meiner Väter"), wurde ihm die Tür vor der Nase zugeschlagen. Tensing hatte sich ins Gespräch gebracht, im Khumbu-Tal eine Bergführerschule aufzubauen. Die Schule wurde gebaut, doch niemand dachte daran, Tensing Norgay dort mit einem Posten zu betrauen.
Doch nun, zum Silberjubiläum der Everest-Erstbesteigung im Jahr 1978, konnten die gekränkten Nepalesen nicht anders, als ihren berühmtesten Sherpa zur Feier nach Katmandu zu bitten.
Respekt für den Meister
Dort steht er - bei Abwesenheit von Sir Edmund Hillary - durchaus im Mittelpunkt des Festes, das sich über eine ganze Woche hinziehen soll. Doch Tensing will sich nicht mehr in einem fort hochleben lassen, er taucht unter manchem Schulterklopfen hinweg.
"Ich habe einmal den Fehler gemacht, die falsche Route genommen zu haben." In Darjeeling ist Tensing Norgay, der einfache Sherpa, zu einem gebildeten Mann geworden. Nun tritt er dicht an den Italiener heran und bemüht sich, seine Stimme nicht unfreundlich klingen zu lassen: "Ein weiser Mann in Indien, ein Brahmane, hat mir mal in ein Buch geschrieben: Sie zeigen uns den Weg hinauf auf den Berg, sie zeigen uns auch den Weg hinunter ins Tal. Aber sie wissen nicht, wie sie uns die Last aus den Schuhen nehmen können." Sie, das sind die Götter. Und nach dem Verständnis der Nepalesen wohnt deren Mutter auf dem weißen Thron des Mount Sagarmatha, des Everest.
Von den Umstehenden löst sich eine kleine Gestalt, ein dunkelhäutiger Sherpa, der schon zweimal auf dem Everest-Gipfel stand, Jahre nach Tensing. Er zieht seinen Blumenkranz, den jeder hier zur Begrüßung auf die Schultern gelegt bekommen hat, über den Kopf und überreicht ihn wortlos seinem großen Kollegen Norgay. Einer der gedrungenen Japaner folgt ihm mit gleicher Geste, setzt noch eine tiefe Verbeugung hinzu. Eine Gänsehautszene.
Kilometerlanger Trauerzug
Tensing, der "Tiger", braucht ein paar Minuten, um sich zu fassen. Erst auf dem Weg zum Buffet wird er seiner Frau Daku sagen: "Vielleicht ist es Zeit, heimzukommen."
Es blieb bei diesem Gedankenspiel. Tensing Norgay starb knapp acht Jahre später in seinem selbstgewählten Exil in Darjeeling. Der Trauerzug für den ersten Everest-Bezwinger war mehr als einen Kilometer lang.
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