Samstag, 20. April 2013

+++GUISEPPE VERDI, oder Italiens allergrösstes Seelengenie+++




Zweihundert Jahre nach Giuseppe Verdis Geburt stößt man in seiner Heimat auf viele Spuren seines Lebens. Und die Menschen erzählen nur allzu gern, was sie von ihrem Nationalhelden halten.

Der „Club der 27“ war wieder am Werk. Wieder haben Nabucco, Ernani, Il Trovatore und die anderen in dem schlichten weißen Stübchen schweigend ihres Meisters gedacht und dann, wie immer, einen Strauß künstlicher roter Rosen auf den Strohsäcken des Bettes hinterlassen. Die Enthusiasten aus Parma gehören zu den Treuesten der Treuen: Jeder der 27 Männer trägt den Namen einer der 27 Opern von Giuseppe Verdi und vermag detailliert Auskunft über alle Hintergründe von der Entstehungs- bis zur Rezeptionsgeschichte zu geben. Neuaufnahmen im Club gibt es deshalb nur, wenn ein Mitglied stirbt.

Hier, in der Casa Natale in El Roncole, sind die Herren sozusagen zurückgekehrt an den Punkt, an dem alles begann. Gerade eben wurde das gedrungene, rosafarbene Gasthaus, in dem Verdis Eltern Saatgut verkauften und durchreisende Händler beherbergten, noch einmal restauriert und frisch verputzt. Auf den neuen, alten Holztischen stehen Kerzenleuchter, Teller und ein Laib Brot. Und durch den kleinen Kamin im elterlichen Schlafzimmer pfeift immer noch der Wind - so wie an jenem 9. oder 10. Oktober 1813 vermutlich, als Sohn Josef, später Giuseppe, hier zur Welt kam. In dem Kirchlein, das man durchs Fenster sieht, durfte der Junge an der Orgel sein musikalisches Talent erproben. Mit neun Jahren kam er dann ins nahe Busseto und besuchte dort das Gymnasium.

Präsent wie kein anderer Musiker

Spuren von Verdi entdeckt man viele in der Po-Ebene: Wohnungen, Denkmäler, Museen, Theater. In Mantua erinnert eine Statue an den Narren Rigoletto, in Parma lassen sich im Museo dell’Opera historische Aufnahmen vergleichen. Und in den Schaufenstern von Bäckereien und Cafés muss der „Schwan von Busseto“ sein markiges Profil für Kekse, Früchtekuchen und Pralinen hinhalten. Viel eher aber erstaunt, wie lebendig der Komponist im Bewusstsein der Menschen geblieben ist. „Als ich damals meine Wohnung bezog, hörte ich als Erstes eine alte Dame, die eine Verdi-Arie sang“, erzählt der Deutsche Gaspar Borchardt, der sich vor 30 Jahren als Geigenbauer in Cremona niederließ. „Auf dem Domplatz kam ein Betrunkener vorbei und sang. Die Maurer, die ein Haus bauten - sie sangen. Und ich dachte: Mensch, das ist tatsächlich das Land der Musik.“

Heute singen sie weniger. Aber Verdi ist im öffentlichen Gedächtnis immer noch präsent wie kein anderer Musiker - vor allem natürlich im Jahr seines zweihundertsten Geburtstages. Ob Krankenschwester, Schaffner, Anwältin oder Kellner - fast jeder hat eine Meinung zu Verdi. Und fast immer ist es dieselbe: Giuseppe Verdi ist unser nationales Genie. Er hat die italienische Seele verstanden wie kein Zweiter. Und er war einer der wichtigsten Vorkämpfer der italienischen Einheit. Mit seinen Liedern, heißt es, habe er mehr für die Einigung erreicht als Garibaldi mit seinen Schlachten. Ob es so war, darüber lässt sich streiten. Der Mythos jedenfalls lebt.

Bietet eine musikalisch-politische Biographie in 21 Stationen: die Villa Pallavicino in Busseto
Den besten Überblick über sein Leben und sein Werk bietet das erst 2009 eröffnete Museo Nazionale Giuseppe Verdi in der Renaissancevilla Pallavicino in Busseto. Die hohen Räume sind mit goldgemusterten Wandbezügen ausgeschlagen und mit Gemälden, Kostümen und gemalten Theaterkulissen zurückhaltend dekoriert. Jeder ist einer oder mehreren Opern gewidmet, und beim Eintritt erklingen Arien und Chöre daraus. Per Audioguide erfährt der Besucher, auch in Deutsch, aus welcher Lebenssituation des Komponisten heraus sie entstanden sind, ob sie erfolgreich oder ein Desaster waren und inwieweit sie mit der Geschichte der Zensur, der Freiheitskämpfe und der Unabhängigkeitsbewegung verwoben waren - eine musikalisch-politische Biographie in 21 Stationen.

Wurstplatten auf Verdis Tisch

In Busseto nahm der Kaufmann Antonio Barezzi Verdi unter seine Fittiche. Der Junge wohnte in der heutigen Casa Barezzi und wagte sich an erste Kompositionen, die er später allerdings alle verbrannte. Das Klavier, an dem er nachspielte, was er sich dank seines absoluten Gehörs zuvor ausgedacht hatte, steht im prächtig restaurierten Salon. In den Räumen nebenan findet sich eine der umfangreichsten Sammlungen von Verdi-Devotionalien: Der Meister in Bildern. Der Meister in Karikaturen. Briefe des Meisters. Theaterplakate. Dirigentenstäbe. Noten. Riccardo Napolitano, Beamter a.D. und selbstverständlich glühender Bewunderer, hat zu jedem einzelnen Stück Anekdoten und Legenden beizutragen. Und wenn er am Ende vor den Schlagzeilen des „Corriere“ aus dem Februar 1901 schildert, wie Verdi knapp vier Wochen nach seiner Beisetzung auf dem Monumentalfriedhof von Mailand in die Krypta der Casa di Riposo überführt wurde, wobei 300000 Menschen die Straßen säumten und ein Chor von 833 Sängern unter Leitung von Toscanini das berühmte „Va pensiero“ aus „Nabucco“ intonierte, wirkt er so gerührt, als könne er immer noch kaum fassen, was er schon so viele Male erzählt hat.

Die Stadt Busseto und der Komponist Verdi - das war freilich alles andere als eine Liebesbeziehung. Die gute Gesellschaft verzieh ihm nie, dass er unverheiratet mit der Sängerin Giuseppina Strepponi zusammenlebte, die drei uneheliche Kinder hatte, die zudem nicht einmal bei ihr aufwuchsen. Aber er war nun einmal ein Weltstar, und dessen klangvollen Namen wollte man sich nicht entgehen lassen. 1868 eröffnete die Stadt das Teatro G. Verdi, eine Mailänder Scala im Kleinformat für 300 Zuschauer, mit vergoldetem Zierat aus Pappmaché, der Akustik wegen. Immerhin kaufte der große Sohn großzügig eine der Logen für damals kaum glaubliche 10000 Lire. Doch weder zur Premiere noch später ließ er sich jemals persönlich blicken. „Was soll ich hier in Busseto?“, schrieb er in einem seiner Briefe. „Hier versauere ich nur.“

Der Meister überall: Verdi-Devotionalien in Busetto

Heute nimmt ihm das niemand mehr übel. Längst hat man ihn fest umarmt. „Wir lieben ihn“, sagt Abele Concari, der grauhaarige Wirt der Bottega Storica e Verdiana Baratta in schöner Offenheit. „Wir lieben ihn für seine Musik. Aber nicht weniger dafür, dass er uns Touristen bringt.“ Der langgezogene Raum der Feinkostkneipe, angeblich Hunderte von Jahren alt, liegt im Halbdunkel. Von der Decke baumeln Sägen, Zaumzeug, Weinfässchen und Schweinsblasen. „Alles original“, schwört Abele, während er für den Ansturm am Abend verführerische Wurstplatten zusammenstellt. „An diesem Tischchen hat wahrscheinlich Verdi mit der Sängerin Teresa Stolz gesessen. Und da vorn steht sein erstes Klavier“ - an Verdi-Klavieren herrscht offenbar kein Mangel. Der Wein kommt in Schalen, wie im 19. Jahrhundert üblich, Besteck braucht für die Salami niemand, und die Nüsse zum Käse klopft man mit einem großen Holzhammer auf.

Er hatte 200 Angestellte und fünf Kutschen

Verdi, ein großer Freund alles Geräucherten, Gesottenen und Gebratenen, hätte die Berge von Culatello, Coppa, Lardo, Pancettato und Mortadella in der Auslage wahrscheinlich geliebt, all die Würste, den Speck und den Schinken, die die Schlachter der Emilia Romagna in so unvergleichlicher Qualität hinzuzaubern verstehen. Ob ihn freilich das Dauergeplärr seiner Werke aus den Lautsprechern ebenso erfreut hätte, ist fraglich. Doch was wiederum könnte einen Komponisten mehr ehren als ein Tisch fröhlicher Studenten, die plötzlich „La donna e mobile“ schmettern?

Als Verdi, vor allem durch „Nabucco“, reich und berühmt geworden war, kaufte er 1848 das Landgut Sant’Agata im nahen Villanova sull’Arda. An klaren Tagen reicht der Blick von der baumbestandenen Insel in der weiten Ebene bis zur Kette der Alpen im Norden, zur anderen Seite bis zum Apennin. Im Lauf der Jahre baute er das einfache Gehöft zu einer respektablen Villa um, die dazugehörigen 900 Hektar Äcker und Wiesen ließ er intensiv bewirtschaften. Der Park wurde mit exotischen Gehölzen, Marmorstatuen und einem verträumten See in ein romantisches Refugium verwandelt. Die Nachkommen von Verdis adoptierter Tochter Filomena Carrara leben heute noch hier, vier Räume aber sind für Besucher geöffnet. Die schweren, geschnitzten Möbel, die Büsten und das Himmelbett mit dunkelgrünem Samt verströmen eine Aura düsterer Feierlichkeit. Die Bücherregale zeigen, dass die skandalumwitterte Giuseppina Strepponi eine Frau mit breiten Interessen war, die vier Sprachen beherrschte. Ansonsten erinnert fast alles an den „Bär“, den Mann mit der eindrucksvollen Nase, dem Bart und den zerfurchten Zügen. Da sind die weißen Handschuhe, in denen er das Requiem für den Dichter Alessandro Manzoni dirigierte, neben einer Schreibtischgarnitur aus Malachit, Geschenk Zar Alexanders II. für die Uraufführung von „Die Macht des Schicksals“ in St. Petersburg. Es gibt eine Partitur von Wagners „Lohengrin“, die er mit Anmerkungen versah, das kostenlose Bahnticket Nr. 308, das ihm während seiner kurzen Zeit als Abgeordneter zustand, und im letzten Raum die Originaleinrichtung jenes Zimmers aus dem Grand Hotel et de Milan in Mailand, in dem er am 27. Januar 1901 starb.

„Als Großgrundbesitzer war er zugleich hart und fürsorglich“, sagt Giovanna Chiozza, eine weitere, beredte Jüngerin, vor Verdis fünf Kutschen im Schuppen. Er hatte 200 Leute angestellt, entließ auch schon mal Knall auf Fall den einen oder anderen seiner Arbeiter, baute ihnen aber auch im nahen Villanova ein Krankenhaus. Der frühe Tod seiner Schwester, seiner ersten Frau und seiner beiden Kinder hatten Verdi verschlossen und grüblerisch werden lassen. Als einfacher Landmann auf seinem Gut fühle er sich am wohlsten, behauptete er gern, fern allen Verpflichtungen in Wien, Paris oder London.

Keiner schläft bei Verdi

Die beiden Regionen Emilia Romagna und Lombardei sind Verdi-Land. Und je intensiver man sich einlässt auf das Phänomen Verdi, desto häufiger meint man, Verbindungen zwischen Architektur und Oper, Landschaft und Musik, Alltag und Kunst ziehen zu können. Zeigt der Palazzo della Pilotta in Mantua die arrogante Schroffheit der Macht, spiegelt das Teatro Farnese in Parma ihren Wunsch, auch gefallen zu wollen - Bausteine so mancher Oper. Das Baptisterium in Parma steht für das Erhabene und den Wunsch nach Entrückung. Die verfallenen Gehöfte dagegen, die zwischen Industriegürteln, endlosen Äckern und den Pappelwäldchen am Po immer wiederauftauchen, erinnern an das Erdenschwere, Bedächtige, auch Bauernschlaue in so manchem Musikschauspiel. Und am Samstagmorgen auf dem Wochenmarkt in Cremona trifft man sie dann alle wieder, die man aus den Werken von Verdi zu kennen glaubt: den schrillen Schmeichler, die ätherische Witwe, den elegant gealterten Verführer mit Siegelring, den Geschichtenerzähler mit seiner Entourage aus drei bewundernden Damen - alle stehen sie für Gran-Padano-Käse und ausgebackenen Fisch an und vergessen dabei keinen Moment, dass sie auf einer Bühne agieren, der größten aller Bühnen, einer Bühne namens Italien.

Eine solche Bühne ist auch die Casa di Riposo dei Musicisti in Mailand. Sie liegt direkt an einem belebten Kreisverkehr. Heute ist Tag der offenen Tür, und die Mailänder stehen Schlange, um sich in dem Altersheim für ehemalige Musiker umzusehen. Am Ende des Hofes liegen Giuseppe und Giuseppina unter schweren Bronzeplatten, während über ihnen auf goldenen Mosaiken Jungfrauen Blumen streuen und Jünglinge das Medaillon des Meisters mit Lorbeer umkränzen - Heldenkult in Jugenstil.

In dem herrschaftlichen Gebäude leben heute gut versorgt 80 ehemalige Sängerinnen, Pianisten, Dirigenten und Komponisten, dazu 16 Musikstudenten mit Stipendium. Aus dem ersten Stock erklingt Klaviermusik. Im Salon mit den roten Samtstühlen spielt ein alter Herr im roten Pullover schwungvolle Kompositionen. Daneben empfängt, leicht gebückt, aber mit wachen Augen, Ludovico Ferri die Besucher. Mit seinen 97 Jahren ist der einstige Violinist einer der ältesten Bewohner des Hauses. Vergnügt kramt er im Gespräch die letzten Brocken seiner verrosteten Deutschkenntnisse zusammen, um dem Besucher aus Deutschland eine wichtige Botschaft mitzugeben: „Unser Verdi“ sagt er, „war der Meister des Kontrapunkts. Das ist große, stimmungsvolle Oper. Bei Ihrem Wagner dagegen“, lächelt er, und der Schalk blitzt aus seinen Augen, „bei Ihrem Wagner sind am Ende doch alle Zuhörer nur, wie sagt man noch mal - sie sind am Ende alle am Schnarchen.“


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