Sonntag, 27. Januar 2013

+++GIUSEPPE GULOTTA (55) sass 22 Jahre unschuldig im Gefängnis+++




Neulich hat Giuseppe Gulotto, der aus der Nähe von Florenz stammt, seine erste Auslandsreise unternommen. Mit 55 Jahren.

Als sein Alptraum begann, er vom Teenager und Maurerlehrling über Nacht zum Mörder wurde, war er 18 Jahre alt. Ein konstruierter Verdacht – und ein durch Folter erzwungenes Teilgeständnis – sollten ihn 36 Jahre seines Lebens kosten, von denen er 22 in Haft verbrachte.
Zwei Drittel seines bisherigen Lebens als Preis für einen Justizirrtum.

Rückblende, Januar 1976: „Abba“ erobert mit „Mamma Mia“ die weltweiten Pop-Charts, Deutschland liegt „Gold-Rosi“ Mittermaier zu Füßen. In Italien eskaliert die Gewalt durch die „Roten Brigaden“.
Im sizilianischen Badeort Alcamo Marina überfallen am 27. Januar Unbekannte eine Carabinieri-Station, erschießen zwei junge Polizisten im Schlaf. Vier angebliche Täter ermittelt die Polizei.
1990, das Jahr des deutschen Fußball-WM-Siegs in Italien: Nach 14 Jahren juristischen Hickhacks muss Giuseppe Gulotta seine lebenslange Haftstrafe antreten. Er gilt nun offiziell als Mörder, als Lebenslänglicher.

Er küsst seine Frau Michelina (damals 30), drückt seinen zweieinhalbjährigen Sohn William. Und die Eisen-Türe schließt sich hinter ihm.
„Zwei Dinge haben mir im Gefängnis Kraft gegeben: Meine Familie und meine absolute Sicherheit, unschuldig zu sein“, antwortet Gulotta auf die Frage, wie er die Zeit bis zu seiner endgültigen Rehabilitierung (2012) durchhalten konnte.
„Ich habe weder nach links noch nach rechts geschaut, sondern immer nur nach vorne.“
Und nein, auch seinen tiefen Glauben habe er in all den Jahren nie verloren: „Ich habe jeden Abend zur Gottesmutter gebetet, mein festes Ritual. An etwas musst du dich festhalten da drinnen.“
Am schwersten fallen sei ihm natürlich die Trennung von seinem Sohn, „die einfachen Dinge, ihn von der Schule abzuholen, Geburtstag zu feiern“. Nur für die Feier der Erstkommunion bekommt er Ausgang, irgendwann in den späten Neunziger-Jahren.
Sein größtes Glück: Der Sohn glaubt nie an die offizielle Version des Verbrechens. Sondern immer seinem Vater. Und tatsächlich: nach den späten Folter-Geständnissen eines damaligen Ermittlers fällt das Lügengebäude in sich zusammen.

Kein einziger des damals belasteten Quartetts war nach heutigem Wissensstand an der Tat beteiligt. Die wahren Mörder, möglicherweise Mafiosi, blieben unbehelligt.
Weil einer der angeblichen Mittäter erhängt in seiner Zelle gefunden worden war, obwohl er nur eine Hand hatte, fürchtete auch Gulotta um sein Leben:
„Du musst mir versprechen, weiter nach der Wahrheit zu suchen, wenn ich eines Tages nicht mehr bin“, habe er seinen Sohn eines Tages gebeten. Dessen Antwort: „Du wirst nicht sterben, Papa...“
In einigen Tagen schon wird Gulotta, wenn es das Schicksal einmal gut mit seiner Familie meint, sein erstes Enkelkind in den Händen halten können. Seinem Sohn und seiner kleinen Familie würde er dann gern finanziell unter die Arme greifen.

„Aber im Moment“, sagt er, „habe ich nichts als Schulden.“ Das könnte sich ändern, wenn der italienische Staat wenigstens zum Teil die Schadensersatzforderung anerkennt, die sein Anwalt gerade eingereicht hat: 69 Millionen Euro.
„Fragen sie mich nicht, wie diese Summe errechnet worden ist“, sagt der 55-jährige. „Wer könnte schon den Wert eines Jahres berechnen?
Aber in einem bin ich sicher: Kein Mensch würde für 69 Millionen Euro 22 Jahre in den Knast gehen, wenn er denn die Wahl hätte.“
Einmal entschädigt, hofft er nur, dass das Geld auch für eine größere Reise reicht. Mit seiner Michelina, die er im September nach Wiedererlangung der vollen Bürgerrechte geheiratet hat: „New York würde ich gerne sehen. Die Freiheitsstatue. Können Sie das verstehen?“

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