Sonntag, 6. Mai 2012

Ethik und Werte brauchen eine Diskurs!


Ethik braucht einen Diskurs


Was wir brauchen, ist ein neuer Blick auf die Spannungsfelder, die hinter den modernen Inszenierungen von Leistung, von Aufstieg und Niedergang stehen. Was wir brauchen, ist eine neue Diskussion über Werte. Nicht das Nachbeten von Slogans („Leistung muss sich wieder lohnen!“). Sondern wirkliche Auseinandersetzung: Warum bedeutet Leistung für uns alles? Welchen Preis bezahlen wir eigentlich für die maßlose Überbewertung dieses Wertes? Warum blenden wir soziale Rahmenbedingungen aus und sehen Erfolg allein als individuellen Verdienst? Warum halten wir gut inszenierte Leistung für ein Zeichen von Überlegenheit? Warum zeigen wir mit dem Finger auf die bluffenden Akteure, die sich an die Speerspitze der Leistungsinszenierung gesetzt haben – und nicht auf das pervertierte System an sich? Warum fällt uns nicht auf, dass die steigenden Zahlen von Depression und Burnout mit genau dieser Pervertierung des Leistungssystems zusammenhängen?

Die Gesellschaft muss sich der Therapie einer offenen und ehrlichen Diskussion um Werte stellen, sonst wird es keine Genesung geben. Die sinnentleerte Floskel „Leistung muss sich lohnen“ muss wieder Sinn erhalten. Leistung, Freiheit, Verantwortung und Gerechtigkeit müssen wieder in Einklang kommen. Weder dürfen wir eine Leistungsinszenierung ohne Leistung dulden – hier haben wir es mit Hochmut zu tun! –, noch eine Leistungsfeindlichkeit ohne Leistung – was nichts anderes ist als Faulheit. Beide Charakterschwächen finden sich im Katalog der so genannten sieben Todsünden, neben Habgier, Genusssucht, Rachsucht, Selbstsucht und Eifersucht. Ein Katalog, der sich übrigens liest wie das Inhaltsverzeichnis eines beliebigen populären Medienprodukts. „Laster“ sind uns heute sehr vertraut – Werte offenbar weniger.

Werte zeigen und verwirklichen sich im Moment einer Katastrophe. Das Unternehmen steht vor dem Ruin, die Branche bricht zusammen – oder: ein Bluff fliegt auf. „Die Möglichkeit, derartige Einstellungswerte zu verwirklichen, ergibt sich also immer dann, wenn sich ein Mensch einem Schicksal gegenübergestellt findet“, erklärt Viktor E. Frankl (1905-1997), Gründer der „Dritten Wiener Schule der Psychotherapie“. In diesem Augenblick komme es darauf an, „dass er es auf sich nimmt, dass er es trägt“ und „wie er es trägt“. Es geht um Haltung. Um Tapferkeit und Würde, selbst, wenn alles verloren scheint.

Neustart in der Wertekrise 

Und hier liegt unsere Chance: Wir brauchen Wertekrisen, weil wir in diesen Krisen unser eigenes Wertekorsett neu schneidern oder neu verschnüren können. In der Krise liegt immer die Chance für einen Neuanfang. Als Unternehmer können wir uns neu die Frage stellen:

• Welche echte Leistung ist die zentrale Triebfeder des Unternehmens?
• Mit welchen Werten ist diese Leistung verbunden?
• Daraus folgend: Welchen Beitrag will das Unternehmen für seine Kunden leisten?

Dieser Nutzen sollte im Mittelpunkt der gesamten Geschäftstätigkeit stehen – nicht die Leistungsinszenierung des Unternehmers oder der Führungskräfte. Und die im Hintergrund wirkenden Werte gilt es, nicht komplett abzukoppeln von anderen Werten, sondern auszubalancieren. Sie kennen die Beispiele: Innovation („Fortschritt durch Technik“, Audi), Gerechtigkeit („Democratic Design“, Ikea), Kreativität („Think Different“, Apple). Fortschritt wird absurd, wenn er ohne Maß vorangetrieben wird; Gerechtigkeit und Partnerschaft werden paradox, wenn günstige Preise durch die gezielte Ausbeutung von Zulieferbetrieben oder Mitarbeitern erzielt werden; Kreativität wird zum Selbstzweck, wenn der Kundennutzen aus dem Fokus gerät. Gelingt es, Werte wirklich balanciert zu leben, profitieren Unternehmen gleich mehrfach. Sie gewinnen:

• Vertrauen, und zwar sowohl von ihren Kunden wie auch von ihren Mitarbeitern und Anteilseignern;
• Innovation, denn aus einer starken Wertequelle sprudeln immer wieder neue Ideen für noch überzeugenderen Kundennutzen;
• Motivation, denn Mitarbeiter, die ihr Unternehmen als authentisch, gerecht und berechenbar erleben, leisten ihren Beitrag gerne;
• Kontinuität, denn ein Blick auf die Historie insbesondere von Mittelständlern zeigt: Die Unternehmen, die in der X. Generation von einer Familie geführt werden, sind oft getragen von einer besonders starken Wertebasis;
• Profit: Je besser die Ergebnisse eines Unternehmens, desto größer sein Spielraum für soziales, kulturelles und ökologisches Engagement – das wiederum Kunden und Mitarbeiter bindet.

Es gilt: Ohne Profit ist keine Ethik möglich, und ohne Ethik kein Profit. Wer hier eine klare Linie fahren will, muss als Unternehmer, aber auch als Führungskraft innerhalb eines Konzerns, vor allem Mut haben. Die Courage, eigene Wege zu gehen. Die Courage, Nein zu sagen, auch wenn alle anderen anders denken und handeln. Die Courage, sich gegen Gepflogenheiten und so genannte Gentlemen-Agreements zu stellen, im Zweifelsfall auch gegen Anweisungen. Kurt Tucholsky hat dies einmal sehr schön auf den Punkt gebracht: „Nichts ist schwieriger und nichts erfordert mehr Charakter, als sich im offenen Gegensatz zu seiner Zeit zu befinden und laut zu sagen: Nein!“ Es ist an der Zeit konstruktiv „Nein!“ zu sagen. Es ist an der Zeit sich mit Gegenentwürfen zu beschäftigen, und zwar differenziert, klar und ehrlich. Durch ein solches Verhalten riskiert man oberflächlich blaue Flecken, auf Dauer aber erhält man sich ein gesundes Rückgrat.

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