Nie lernt man mehr Menschen auf einen Schlag kennen als in der allerersten Uniwoche. Damit man sich bei dem Gewusel noch zurechtfindet, gibt es als Unterscheidungshilfe die Typologie der Erstsemester.
Der Überinformierte
Daran erkennst du ihn: An dem Stadtplan, auf dem er sich die Lage der Universitätsgebäude mit einem Leuchtmarker markiert hat. Auch sonst kennt sich der Überinformierte schon jetzt besser aus als der Fachstudienberater, weil er den Sommer zwischen Abitur und Studium damit verbracht hat, die Prüfungsordnung auswendig zu lernen, sich zu Kursen anzumelden und mit Lineal und Filzstiften eine riesige Übersicht zu basteln, welche Module er in welchem Semester belegen möchte. In der Facebook-Gruppe eures Studiengangs wird er auch in den folgenden Semestern zuverlässiger als das Uni-Intranet mit der „Hallo an alle, vergesst nicht“-Formulierung an Semesterrückmeldetermine, Sprachkursanmeldungen und Hausarbeitsabgabefristen erinnern.
Bei der Infoveranstaltung in der O-Woche fragt er, ob er dieses Seminar aus dem Schwerpunktmodul nicht doch schon im ersten Semester besuchen kann – das wird ja erst wieder in zwei Semestern angeboten und da will er gerade ins Ausland gehen.
Triffst du ihn im Supermarkt, liegen in seinem Einkaufskorb… zwei Packungen Spaghetti, Dosenmais und eine Packung H-Milch. Alles von der Hausmarke des Supermarkts.
In der freien Zeit zwischen den Einführungsveranstaltungen, lädt er das Guthaben seiner Kopierkarte auf, nimmt an der Bibliotheksführung teil und meldet seinen neuen Wohnsitz im Bürgerbüro an.
So wohnt er: Kastenförmiger Neubau, WG-Küche mit Spülmaschine, ruhige, aber zentrale Lage. Die Wohnung teilt er sich mit zwei Masterstudenten.
Der Weitgereiste
Daran erkennst du ihn: An seinem Handgelenk, an dem entweder ein Lederarmband oder eine Gebetskette aus Holzperlen baumelt. Nach dem Abitur hat der Weitgereiste nämlich ein Jahr Pause eingeschoben, um – so ungebunden, wie man ja nie wieder sein wird – eine Weltreise zu machen, bei einem weltwärts-Programm Englisch in einem entlegenen chinesischen Bergdorf zu unterrichten oder auf einer neuseeländischen Obstplantage Äpfel zu pflücken. Erst zwei Tage vor Beginn der O-Woche ist er wieder in Deutschland gelandet und ist schon jetzt von der deutschen… wie heißt das? Engstirnigkeit? Sorry, solche Wörter fallen ihm nicht mehr ein, seitdem er drei Monate in Kanada war. Nachdem du es ihm beim heiteren Wörterraten in den Mund gelegt hast, kann er dir schließlich sagen, dass er von der deutschen Engstirnigkeit total genervt ist.
Bei der Infoveranstaltung in der O-Woche fragt er, warum am Sprachenzentrum der Uni keine Kurse in Thai angeboten werden.
Triffst du ihn im Supermarkt, liegen in seinem Einkaufskorb… je nach bereistem Land Currypaste, eine Dose Kokosmilch, Hirse oder Kichererbsenmehl. Übrigens der gleiche Grund, warum du dich mit ihm anfreunden solltest. Schon mal selbstgemachte Pakoras gegessen? Eben.
In der freien Zeit zwischen den Einführungsveranstaltungen, muss er erst einmal wieder richtig in Deutschland ankommen. Das heißt Bürokratiegedöhns erledigen, sich bei den alten Freunden melden und endlich den Durchfall loswerden, mit dem er sich seit Indonesien herumschlägt.
So wohnt er: In einem Wohnheimzimmer, das er sich von einem Internetcafé in Vietnam aus organisiert hat. Schon dabei ist die Internetverbindung ständig zusammengebrochen, ausgedehnte Suchaktionen nach WGs waren also nicht drin.
Das Klammeräffchen
Daran erkennst du es: An dem schüchternen Blick, mit dem es die anderen bei der Kneipentour mustert. Zu Hause – das ist ganz schön weit weg – war das Klammeräffchen in seinem Freundeskreis sehr beliebt, aber die kannte es ja auch schon seit der Mittelstufe. In der neuen Stadt ist es deswegen erst einmal verunsichert, ob es jemals wieder richtige Freunde finden wird. Und ob es überhaupt eine gute Entscheidung war, fürs Studium so weit wegzuziehen, die anderen sind ja alle in der Heimat geblieben. Umso enthusiastischer stürzt es sich auf jeden, der mit ihm eine Unterhaltung beginnt.
Bei der Infoveranstaltung in der O-Woche fragt es nichts, bloß nicht auffallen.
Triffst du es im Supermarkt, liegen in seinem Einkaufskorb… eine Packung streichzarte Butter, Bioscheibenkäse und Schokokekse. Eigentlich alles, was die Eltern auch immer im Einkaufswagen hatten.
In der freien Zeit zwischen den Einführungsveranstaltungen, müssen erst einmal die neuen Bekanntschaften gefestigt werden: Beim Kaffeetrinken, bummeln in der Innenstadt oder bei der Bibliotheksführung, zu der dieser übermotivierte Student unbedingt gehen wollte. Das trifft sich aber gut, weil man ihm gleich all die Fragen stellen kann, die einem bei der Infoveranstaltung zu dämlich vorkamen.
So wohnt es: In einem Einzimmerappartement mit einem Zwei-Quadratmeter-Balkon. Das Zimmer selbst ist studentisch-uniform mit weißen Ikea-Möbeln eingerichtet, über dem Malm-Bett hängt das Abschiedsgeschenk der Freunde von daheim: Ein Fotoposter, auf dem die Gruppe Händchen haltend ins Meer hineinrennt.
Der Befreite
Daran erkennst du ihn: An seinem Atem, wenn du ihn abends beim Weggehen triffst. Jahrelang hat er auf den Studienbeginn hingefiebert, wenn ihn seine Mutter am Wochenende geweckt hat, indem sie auf der Anlage im Wohnzimmer Bruce Springsteen aufgedreht hat. Dazu die Schule, dieser Kindergarten, wo man sich noch in der Abizeit Ausreden überlegen musste, wenn man einmal gefehlt hat. Und diese stinkigen Oberstufenfeten mit Strandmotto. Vorbei!
Bei der Infoveranstaltung in der O-Woche fragt er nichts, nippt aber emsig an seinem Kaffee. Und empfindet es als gutes Zeichen, dass er es überhaupt hierher geschafft hat nach gestern Abend. Das mit dem Studium wird schon klappen, obwohl überall sonst so viel los ist gerade.
Triffst du ihn im Supermarkt, liegen in seinem Einkaufskorb… eine Flasche Rum, Fertigpizza und ein Tetrapak Eistee.
In der freien Zeit zwischen den Einführungsveranstaltungen, schläft er oder gammelt mit seinen Mitbewohnern auf der Couch. Die sind sowieso viel unkomplizierter und weniger anstrengend als diese hypermotivierten Erstis, die er bei der Infoveranstaltung getroffen hat.
So wohnt er: In einer Fünfer-WG mit riesigem Wohnzimmer, in dem abends mit Freunden vorgeglüht wird und außerdem gerade ein Bekannter von einem Bekannten übernachtet, der in der Stadt war und eine Schlafgelegenheit brauchte. Die Lage: an der lauten Hauptverkehrsachse, aber zentraler geht es nicht.
Der Daheimbleiber
Daran erkennst du ihn: An dem völligen Desinteresse an deiner Person und dem gelangweilten Blick, den er während des gesamten Einführungswochen-Vergnügungsprogramms aufsetzt. In der Abizeit kam ihm die Idee, in seiner Heimatstadt zu studieren, ziemlich klug und entspannt vor. Spätestens nach der zweiten Uniwoche ödet ihn diese Entscheidung aber selbst ein bisschen an. Schließlich hat sich an seinem Leben nur wenig geändert: Statt morgens um acht zur Schule zu fahren, kann er jetzt zwei Stunden länger schlafen, bevor das Seminar losgeht. Und, fast vergessen: Er steigt an einer anderen U-Bahn-Station aus.
Bei der Infoveranstaltung in der O-Woche fragt er, ob man sein Auslandssemester auch in Australien verbringen kann, wenn man das als Freelancer organisiert. Bitte, bitte, weit weg von hier.
Triffst du ihn im Supermarkt, liegt in seinem Einkaufskorb… nichts, weil du ihn dort gar nicht triffst. Höchstens seine Eltern am Samstag, die für ihn immer noch Kinder Pinguin im Kühlschrank bunkern.
In der freien Zeit zwischen den Einführungsveranstaltungen, geht er zum Fußballtraining, trifft sich mit seiner Freundin und abends dann mit seinem alten Freundeskreis zum Weggehen.
So wohnt er: Im Reihenendhaus seiner Eltern. Eigentlich wollte er mit seinem besten Freund eine WG in der Innenstadt gründen, aber der Wohnungsmarkt war total überlaufen, als er sich im September auf die Suche gemacht hat. Spätestens zum nächsten Semester dann, wenn in der WG eines anderen Kumpels was frei wird.
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