Er war Adolf Hitlers Beschützer und ständiger Begleiter. Jetzt ist Rochus Misch mit 96 Jahren in Berlin gestorben. Der gelernte Maler galt als letzter Augenzeuge aus dem unmittelbaren Umfeld des Diktators. Von den Verbrechen des Regimes will er nichts mitbekommen haben.
Es war am 2. oder 3. Mai 1940, ganz genau erinnerte sich Rochus Misch nicht mehr, als der Dienstwagen in die Berliner Wilhelmstraße rollte. Das Auto stoppte vor der Nummer 77, der Reichskanzlei, und der SS-Mann Misch stieg aus, aufgeregt, fast panisch. Hier also sollte er arbeiten, im Zentrum der unumschränkten Macht des Diktators, in dessen unmittelbarer Umgebung, als sein Leibwächter und Telefonist. Die Kameraden sagten: "Wenn man dem Führer begegnet - zur Seite treten, nichts machen. Entweder er spricht dich von selbst an oder eben nicht."
Rochus Misch, geboren 1917 in Oberschlesien, war ein einfacher Mann in einer ungeahnt schwierigen Position. Der gelernte Werbemaler gehörte bis zum Mai 1945 dem sogenannten Führerbegleitkommando an, das unter anderem Hitlers Sicherheit gewährleisten sollte. Er folgte dem Führer auf den Obersalzberg, nach Polen, Russland und schließlich in den Bunker.
Misch erlebte Wegmarken der deutschen Geschichte im Auge des Orkans, der mit vernichtender Kraft über Europa hinwegzog, und beschrieb sie später, ohne sich mit seinen Erlebnissen zu brüsten. Er sei der "Forrest Gump" dieser Zeit gewesen, schrieb die Co-Autorin seiner Autobiografie ("Der letzte Zeuge") vor einigen Jahren, meistens dabei, immer ganz nah dran, aber eben vielleicht auch zu nah, um das schreckliche Ganze sehen zu können.
Von dem Tag an, an dem Rochus Misch zu Hitler gekommen sei, so die Publizistin und Juristin Sandra Zarrinbal, sei dessen Leben voller Unvereinbarkeiten gewesen: "Misch, SS-Mann, aber nie NSDAP-Mitglied, mag nicht Soldat sein und will keinen Krieg, lebt aber dort, wo er ausgebrütet und vorangetrieben wird." Er habe seinen Onkel aus dem KZ geholt - "und Himmler den Mantel." Im Dienst habe Misch Goebbels gelauscht und mit dem Schwiegervater den Feindsender gehört. Sein Zuhause sei durch und durch sozialdemokratisch, seine Frau machte nach dem Krieg in der Berliner SPD Karriere, doch sein "Chef" sei eben der oberste Nationalsozialist gewesen. "Schicksal" nannte Rochus Misch das später.
Zufall könnte man auch sagen, jedenfalls brachte ihn kein ausgereifter Plan in Hitlers Nähe. Der begeisterte Sportler hatte sich in der Hoffnung auf eine spätere Verwendung als Staatsbediensteter 1937 zur sogenannten Verfügungstruppe gemeldet, einer Vorläuferorganisation der Waffen-SS. Beim Überfall auf Polen wurde er schwer verwundet, als er die Übergabe einer feindlichen Stellung verhandeln sollte. Und weil Rochus Misch als Vollwaise und letzter Sohn seiner Familie wohl nicht wieder an die Front sollte, schickte man ihn in die Reichskanzlei.
"Ein Bild von einem Jüngling"
"Er war fast jeden Tag mit dem An-'Führer' aller Nazi-Verbrecher zusammen", schrieb Zarrinbal. "Er war das nicht, weil er die Nazis so toll fand, sondern sie ihn." Misch sei "ein Bild von einem Jüngling" gewesen, groß, mit markanten Gesichtszügen und maskulin-verwegenem Kinngrübchen. "Er ist nicht auf sie zugegangen, er wollte gerade an ihnen vorbeigehen." Doch die Nazis hätten ihn "auf seinem Weg ins Leben aufgegriffen und in die Schaltzentrale des Bösen entführt".
In der Reichskanzlei nahm ihn im Mai 1940 Hitlers Chefadjutant in Empfang. "Und ich hatte Angst. Bloß nicht dem Führer begegnen." Und dann ging der Chefadjutant zur Tür und dahinter stand: Hitler. Ihm sei kalt geworden, heiß, ganz anders, erinnerte sich Misch. Der "Chef", wie er ihn später nannte, habe ihm einen Brief für seine Schwester in Wien gegeben. "Das war die erste Begegnung. Das war kein Monster, das war kein Übermensch, der stand mir gegenüber wie ein ganz normaler Herr. Mit netten Worten", sagte Misch im Jahr 2007 SPIEGEL ONLINE.
Von den Monstrositäten des Unrechtsregimes nichts mitbekommen
Rochus Misch sollte es nie recht gelingen, den privaten Hitler mit dem historischen in Einklang zu bringen. Dass dieser Mann, der ihn und seine Kameraden zumeist freundlich behandelte und zudem ausgesprochen bescheiden lebte, zugleich der größte Verbrecher der Menschheitsgeschichte war, scheint für Misch immer ein Widerspruch geblieben zu sein. Stets beharrte der frühere Bodyguard darauf, er habe in der unmittelbaren Umgebung des Tyrannen von den Monstrositäten des Unrechtsregimes nichts mitbekommen. Darüber sei nie gesprochen worden.
Lieber berichtete der frühere SS-Oberscharführer davon, dass Hitler zum Frühstück gerne Knäckebrot aß, dass ihn "Vom Winde verweht" begeisterte, dass die Nummer des Diktators im Telefonbuch stand, sie lautete 120050, und dass Misch das "Fräulein Braun" einmal in einem sehr dünnen Nachthemdchen in Hitlers Gästebett vorfand. "Das Blut schoss mir in den Kopf", so Misch. "Sie sagte nichts, hob lediglich ihren rechten Zeigefinger an die geschlossenen Lippen. Ich machte sofort kehrt."
Misch hat in den Lebensjahren, in denen andere eine Familie gründen oder sich eine berufliche Existenz aufbauen, Geschichte erlebt, auch wenn er sie nur in Form von Geschichten wahrnahm. Seine Beobachtungen und Erinnerungen erklärten nie, wie es zum Zweiten Weltkrieg, wie es zum Holocaust kommen konnte, aber sie gaben ein Gefühl dafür, wie es im Machtzentrum des Dritten Reichs Tag für Tag zuging: erschreckend banal.
Ergeben bis in den Untergang
Bemerkenswert allerdings war, mit welch traumwandlerischer Sicherheit Hitler von seiner eigenen Unantastbarkeit ausging. "Mir passiert schon nichts", so zitierte ihn Misch immer wieder und verwies auf die geradezu lächerlich erscheinenden Sicherheitsvorkehrungen in der Reichskanzlei. Von der Straße bis in die Wohnung des Tyrannen waren es 22 Stufen, die zumeist nur von einem einzigen Mann bewacht wurden. Das war Misch bewusst. Auf die Idee, dass auch er mit seiner Walther-PP den Dämonen hätte erledigen können, schien er indes nie gekommen zu sein. Dafür war er wohl zu sehr Soldat, ergeben bis in den Untergang.
Bis Misch den Bunker unter der Reichskanzlei verließ, musste sich nicht nur der "Chef" getötet, sondern ihn auch dessen Nachfolger Joseph Goebbels offiziell entlassen haben. Erst dann flüchtete der SS-Mann und versuchte sich zu seiner Frau und seiner einjährigen Tochter nach Berlin-Rudow durchzuschlagen. Er kam nicht weit. Die Russen griffen ihn auf.
Misch wurde nach Moskau gebracht, verhört, gefoltert, immer wieder verhört. Er schrieb an den russischen Geheimdienstchef und bat, endlich erschossen zu werden. Doch er blieb am Leben. Nach acht Jahren Lagerhaft in Kasachstan und im Ural kehrte Misch 1953 nach Berlin zurück. Er übernahm im Westteil der nun geteilten Stadt das Malergeschäft eines Freundes. Dort arbeitete er bis zur Rente.
"Meinen Enkeln, dem jungen Rochus und seinem Bruder", schrieb Misch am Ende seiner Autobiografie, "wünsche ich nichts mehr, als dass sie erkennen, welch ungemein schätzenswerter Herausforderung sie sich heute in einer Demokratie stellen dürfen: einen selbstbestimmten Weg zu gehen. Zu meiner Zeit reichte meine Kraft nur für ein Soldatenschicksal."
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