Samstag, 12. Oktober 2013

+++Woodstock in wilhelminischer Zeit+++


Jahrhundertfeier mit mystischem Flair: Vor 100 Jahren trafen sich etwa 3000 Jugendliche auf dem Hohen Meißner, einem Bergrücken östlich von Kassel. Ohne Kleiderordnung und wie im Rausch tanzten und sangen sie gemeinsam - eine Provokation für ihre konservativen Zeitgenossen.

Es regnete, Nebel lag über dem herbstlichen Land. Doch niemand störte sich daran. Erwartungsvoll erklommen rund 3000 junge Frauen und Männer am 11. Oktober 1913 die Hänge des Hohen Meißner. Um nichts in der Welt wollten sie den Ersten Freideutschen Jugendtag verpassen, der in freier Natur, auf den Wiesen des osthessischen Berglandes stattfand. Zwei Tage lang verwandelten sie das Meißner-Gelände in eine riesige Festwiese und vergaßen den wilhelminischen Drill, dem sie im Alltag zu Hause und in der Schule ausgesetzt waren: "Wettkämpfe und Reigentänze überall. Mittags wurde in Gruppen gekocht und der Rauch der Feuerstätte mischte sich mit den aufsteigenden Nebeln. Man ging von Gruppe zu Gruppe und traf überall Freunde", beschrieb eine junge Studentin aus Jena euphorisch ihre Eindrücke. 

Der Lebensreformer Hans Paasche begeisterte sich: Endlich sei er jungen Menschen begegnet, die "gehen konnten und springen, sprechen, lachen und singen". In seinem Buch "Die Forschungsreise des Afrikaners Lukanga Mukara ins innerste Deutschland" legte er seine Beobachtungen der fiktiven Figur eines afrikanischen Stammeshäuptlings in den Mund. "Sie hatten kein Leibgerüst und keine Zwangsschuhe. […] Ihr eigenes Haar hing in goldenen Flechten über den Rücken und Kränze roter Beeren schmückten ihre Köpfe." 



Als Großveranstaltung, gar als "Jahrhundertfeier" hatten die Veranstalter, die aus höchst unterschiedlichen lebensreformerisch und reformpädagogisch inspirierten Gruppen kamen, das Fest angelegt. Und der große Wurf war ihnen tatsächlich gelungen. Der Jugendtag war so etwas wie ein gigantisches Open-Air-Event, ein wilhelminisches Woodstock, das den Aufbruch Jugendlicher in eine neue, bessere und vor allem freiere Zukunft feierte. Wie im Rausch erlebten die jungen Frauen und Männer fernab der Zwänge des Alltags diese Tage und kehrten mit dem Gefühl einer tiefen emotionalen Verbundenheit und getragen von dem "Meißner-Geist" nach Hause zurück. 

"Alkohol- und Nikotinfrei" 

Die "Jugendbewegung" stand im Herbst 1913 auf ihrem ersten Zenit. Sie umfasste eine Vielzahl von Gruppierungen, die mehr Freiheit und Selbstbestimmung einforderten. Am bekanntesten sind und waren die sogenannten Wandervogelgruppen, in denen sich Gymnasiasten zusammenfanden. In der schulfreien Zeit gingen sie gemeinsam wandern und suchten in der Natur ihre Freiräume vom Alltag. Ebenso prägend waren die studentischen Gruppierungen wie etwa die "Akademische Freischar", der "Bund abstinenter Studenten" oder die "Akademische Vereinigung", die mit zu den wichtigsten Organisatoren und Akteuren des Ersten Freideutschen Jugendtages zählten. 

Bewusst planten sie ihren großen Tag als Gegenveranstaltung zur Einweihungsfeier des gigantischen Völkerschlachtdenkmals, die fast zeitgleich in Leipzig stattfand und an die große Entscheidungsschlacht gegen Napoleon 1813 erinnerte. Sie wollten sich abheben von den patriotischen Massen, die Kaiser und Reich huldigten und Deutschlands Großmachtstellung in Europa und der Welt beschworen. Bewusst knüpften die Meißner-Veranstalter an die Feste der deutschen Nationalbewegung des frühen 19. Jahrhunderts an, bei denen nicht die nationale Einheit, sondern Freiheit und Gleichheit im Vordergrund gestanden hatte. Sie begingen ein Fest der Jugend, in der Tradition der "Feste eines freien Volkes unter freiem Himmel" ähnlich wie das Wartburgfest 1817 oder das Hambacher Fest 1832. 

Unterstützung erhielten die Jugendgruppen von seinerzeit bekannten Persönlichkeiten wie dem Pädagoge Gustav Wyneken, dem Gründer der Volkshochschule Klappholttal auf Sylt, Knud Ahlborn, dem Psychoanalytiker Siegfried Bernfeld, dem Schriftsteller Manfred Hausmann und Lebensreformer Paasche. Einen zumindest vagen programmatischen Rahmen erhielt das Fest durch Leitsätze, die am Vorabend auf der nahegelegenen Burg Hanstein vereinbart worden waren: "Die Freideutsche Jugend will nach eigener Bestimmung, vor eigener Verantwortung, in innerer Wahrhaftigkeit ihr Leben gestalten. Für diese innere Freiheit tritt sie unter allen Umständen geschlossen ein. Zur gegenseitigen Verständigung werden Freideutsche Jugendtage abgehalten. Alle gemeinsamen Veranstaltungen der Freideutschen Jugend sind alkohol- und nikotinfrei." 

Die Aura des Ortes 

Geradezu mystisches Flair bekam die ungewöhnliche Veranstaltung durch die flammende, fast spirituelle Rede Wynekens. Die Zukunft liege "durch eine dichte Nebelwand verhüllt", verkündete dieser oben auf dem Gipfel unter herbstlichem Himmel. Es sei, als höre man dennoch "durch den Nebel hindurch von einem fernen Zeitenjenseits oder von der Ewigkeit her die Stimme der Gerechtigkeit und der Schönheit." Schließlich forderte er seine Zuhörer auf, sich würdig zu erweisen, "Krieger des Lichts" zu werden. Für welche Ziele und gegen wen sie geistig kämpfen sollten, ließ er allerdings offen. 


Die öffentlichen Reaktionen auf das Fest waren gespalten. In der auflagenstarken Familienzeitschrift "Die Gartenlaube" hieß es, es bestehe zwar ein gewisses Misstrauen von Seiten Erwachsener gegen diese "Freiheitsbewegung" der Jugend, und es sei auch noch nicht klar zu erkennen, wie sich diese "Revolte" gegen die Zwänge der Schule entwickeln werde. Dennoch: Die Tatsache, dass sie ihren Anspruch auf jugendliche Freiräume zum Wandern nutze, stelle nun wirklich "keinen Missbrauch der Freiheit" dar. Bedenklich sei lediglich "die gar so radikale Selbstverständlichkeit, mit der Mädchen und Knaben beieinander" gewesen seien. 

Ein knappes Jahr später brach der Erste Weltkrieg aus. Danach war nichts mehr, wie es einmal war. Die Teilnehmer des Meißner-Ereignisses von 1913 aber sprachen später noch oft von der Aura des Ortes. Für viele von ihnen war es der Beginn einer jugendbewegten Zeitrechnung. Etwa für den Sozialdemokraten Carlo Schmid, einen der Väter des Grundgesetzes. Als er im Jahre 1975 den von dem Hamburger Kaufmann Alfred Toepfer gestifteten Hanseatischen Goethe-Preis erhielt, kam er noch einmal auf der Ereignis zu sprechen. "Die Welt" beschrieb die Szene damals so: "Er blickt Herbert Weichmann an und Alfred Toepfer und macht vom Bankett im Atlantik-Hotel weg einen Gedankensprung über sechs Jahrzehnte: Wir waren alle drei auf dem hohen Meißner." 

(Fotos: Archiv der deutschen Jugendbewegung, Burg Ludwigstein)

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