Freitag, 4. Oktober 2013

+++Deutsche Alleinschuld am ersten Weltkrieg? Ein Weltkriegsforscher zweifelt nun daran+++


War das Deutsche Kaiserreich alleine schuld am Ersten Weltkrieg? Und damit am Tod von 17 Millionen Menschen? Nun stellt ein australischer Historiker infrage, was lange als Gewissheit galt. Er erklärt das „wohl komplexeste Ereignis aller Zeiten“.

Deutschland hat den Ersten Weltkrieg angezettelt und trägt die Hauptschuld für die Ur-Katastrophe des 20. Jahrhunderts. Das galt unter Historikern über Jahrzehnte als gesichert. Mit dem „Griff nach der Weltmacht“, wie der Hamburger Historiker Fritz Fischer sein Standardwerk zur Kriegsschuld in den 1960er Jahren nannte, habe Kaiser Wilhelm II. nach den gescheiterten Kolonialabenteuern die Vormachtstellung des Deutschen Reichs in Kontinentaleuropa angestrebt. Die Deutschen stolperten oder schlitterten nicht in den Krieg – sie entschieden sich für ihn, lautete Fischers These.

Jetzt stellt der Historiker Christopher Clark diese Lesart infrage – und hat damit Monate vor dem 100. Jahrestag des Weltkriegsbeginns im kommenden Sommer eine Debatte über die Kriegsursachen ausgelöst. Innerhalb kurzer Zeit nach Erscheinen der deutschen Übersetzung ist Clarks 900-Seiten-Wälzer „Die Schlafwandler“ ein Bestseller.

Clark, der bereits eine preisgekrönte Preußen-Geschichte verfasst hat, bricht mit seinem neuen Buch den Konsens auf: Nicht nur Deutschland – alle Mächte Europas zündeten an der Lunte, mit der sich schließlich der Konflikt entlud.

Das wohl komplexeste Ereignis aller Zeiten

Ob in Berlin, Moskau, St. Petersburg, London oder Wien: Monarchen und Militärs, Minister und Diplomaten trieben ihr Spiel so lange, bis ihnen am Ende die militärische Konfrontation als unausweichlich erschien. Mit einfachen Erklärungen kann Clark, der im britischen Cambridge lehrt, nicht helfen: Die Julikrise von 1914, die zur Mobilisierung von Europas Bataillonen und schließlich zum globalen Krieg führte, sei das wohl komplexeste Ereignis aller Zeiten.

Der Australier hat in seiner akribischen Quellenstudie die Mentalität der Herrscher im alten Europa nachgezeichnet. Er beschreibt, wie Vorurteile und Misstrauen die Politik bestimmten, Intrigen und Geheimdiplomatie die labile Vorkriegs-Balance aushöhlten.

Anschlag auf österreichischen Thronfolger war nicht zwangsläufig
Der Krieg, den der Terroranschlag auf den österreichischen Thronfolger, Erzherzog Franz Ferdinand, und dessen Frau am 28. Juni 1914 in Sarajevo auslöste, erscheint bei Clark nicht als zwangsläufiges Ereignis. Wenn nur einer der beteiligten Staaten die Notbremse gezogen hätte, wäre die Tat des serbischen Nationalisten Gavrilo Princip heute eine Fußnote der Geschichte, meint er. Das Sterben von mehr als 17 Millionen Menschen hätte verhindert werden können.

Clark beschreibt, wie Deutschland, Österreich-Ungarn, Frankreich, Russland und Großbritannien (dazu kommen Italien und das Osmanische Reich) in einem Wirrwarr aus Versprechungen, Drohungen, Plänen und Prognosen gefangen waren. Ob der deutsche Kanzler Bethmann Hollweg oder seine Kollegen in Paris oder Moskau: Clark schildert, wie die Staatsmänner die Interessen ihrer Regierungen in den Vordergrund stellten und sich kaum für die Konsequenzen ihres Handelns interessierten.

So war es wohl kein Wunder, dass die Schüsse von Sarajevo genügten, um das europäische Gebilde vor 1914 in Stücke zu reißen. So blickt Clark zunächst auf die serbischen Schreckensgespenster. Am Anfang seiner Schilderung steht ein Königsmord am Belgrader Hof im Jahr 1903. Hinter den blutigen Ereignissen stehen jene serbischen Nationalisten, deren Anschlag später den Krieg auslösen wird. In den folgenden elf Jahren wird der Vielvölkerstaat Serbien als Zankapfel der europäischen Mächte zum Katalysator des Konflikts.

Clark widmet dem österreichisch-serbischen Streit viel Platz. Er weist auf Möglichkeiten hin, wie der Kriegsausbruch doch noch hätte verhindert werden können. So habe Erzherzog Franz Ferdinand noch eine Reform der Donaumonarchie angestrebt.

Schlafwandler: „wachsam, aber blind“

Doch nicht nur in Wien, auch in Paris oder London sieht Clark schwere Versäumnisse. Frankreich sei vor allem darauf bedacht gewesen, Deutschland in Schranken zu halten. Großbritannien betrieb die Existenzsicherung des Empires. Die Allianzen mit Russland und Frankreich dienten diesem Ziel. Und wirklich ernst genommen wurden die Deutschen nicht: Der Kaiser galt als tollpatschiger Möchtegern, starke Worte aus Berlin wurden als Bluff eingestuft.

Dem deutschen Reich wurde eine untergeordnete Rolle zuerkannt, wie Clark am Beispiel des britischen Außenministers Edward Grey, eines notorischen „Deutschlandhassers“, zeigt. Nicht die Entscheidung Berlins, die deutsche Kriegsflotte auszubauen, habe die Entente-Mächte Russland, Frankreich und Großbritannien gegen Deutschland und Österreich-Ungarn zusammengeschweißt. Sorgen habe vor allem die schnelle Industrialisierung Deutschlands und die Eroberung neuer Märkte bereitet.

Doch von Schuldzuweisungen hält Clark wenig. Ihn interessiert, wie die Mechanismen der Macht zum Desaster führten. Die Protagonisten von 1914 seien Schlafwandler gewesen, schreibt er am Ende, „wachsam, aber blind“, unfähig, die Realität der Kriegsgräuel zu erkennen, die vom 28. Juli 1914 an ihren Lauf nahmen.

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