Kaum Geld, wenige Aufträge – und dann platzte auch noch die New-Economy-Blase. Das Münchner High-Tech-Unternehmen Hybris, aus einer Wohngemeinschaft hervorgegangen, stand mehrfach vor der Pleite. Nun kaufte SAP die Firma für über eine Milliarde Euro.
Mehrfach hätten sie vor der Pleite gestanden, erzählt Carsten Thoma. Seine Sätze kommen teils abgehackt und mit Verzögerung durch die Telefonleitung – im Hintergrund ist laute Musik zu hören. Thoma befindet sich in einer „Hütte mit Live-Musik“ im Inselstaat Tonga im Süd-Pazifik – 21 Uhr ist es dort. Er hat sich per Telefon in einen Konferenzraum des Münchner Büros der Firma Hybris zuschalten lassen.
Dort sitzt sein Kollege und Kumpel Moritz Zimmermann, der ansonsten im Auftrag seiner Firma die Welt bereist. Gemeinsam mit Thoma und Designer Christian Flaccus gründete Zimmermann in der bayerischen Landeshauptstadt Hybris, das der Software-Riese SAP Anfang August für mehr als eine Milliarde Euro gekauft hat.
Der erste große Auftrag
Alles begann 1997 in einer Wohngemeinschaft in der Münchner Karlstraße, in der Nähe des Hauptbahnhofs. Die Gründer waren damals Anfang und Mitte 20. „Beinahe alle WG-Mitglieder sind irgendwann bei unserem Unternehmen gelandet“, erzählt Moritz Zimmermann. Das war auch nötig gewesen. Den Jungunternehmern fiel es schwer, Leute davon zu überzeugen, für sie zu arbeiten. „Wir konnten nur wenig bieten – nicht viel Geld, keine tollen Büros und keine sichere Karriere.“ Die ersten 50 bis 60 Mitarbeiter stammten dann auch aus dem näheren Umfeld der Gründer – sie waren Freunde oder zumindest gute Bekannte.
Das Produkt der Start-Up-WG: eine Software, die großen Unternehmen, die mit dem Handel im Internet Geld verdienen, eine zentrale Übersicht über Kunden, Bestellungen und Produkte ermöglicht. Behilflich sind dabei alle möglichen Kanäle: Tablets, Smartphones, PCs und Kassen. Die ersten Schritte hin zum Erfolg waren jedoch Programme für kleine und mittelgroße Unternehmen. Viel Geld stand nicht zur Verfügung. „Wir erhielten einen Kredit von einer Sparkasse“, erzählt Zimmermann. „Davon bezahlten wir unsere ersten Messeauftritte, auf die uns Carsten Thoma jagte.“ Dann zogen die Freunde den ersten großen Auftrag an Land – mit bescheidenem Erfolg.
Die Blase platzt
Ausgezahlt hatte sich das Engagement vorerst nicht. „Nur wenige Betriebe waren bereit, Unternehmens-Software zu kaufen.“ Besonders für den eCommerce habe es schlecht ausgesehen. „Ein Freund von mir hatte damals sogar gewettet, dass Amazon pleitegehen würde.“ Dann, Anfang des Jahrtausends, bewahrheiteten sich die Befürchtungen: Die New-Economy-Blase platzte und riss unzählige Internet-Unternehmen in den Abgrund.
Auch Hybris stand kurz vor der Pleite. Kurze Zeit zuvor hatte das Unternehmen Büros im Ausland eingerichtet. Als Folge der Blase wurde der Fonds, über den sich die Firma zum Teil finanzierte, plattgemacht. Wie sollte es weitergehen? „Einer unserer Unterstützer fasste sich ein Herz und finanzierte Hybris“, sagt Zimmermann. „Er wandte eine Salami-Taktik an: Jahrelang wussten wir lediglich zwei Wochen im Voraus, ob wir Geld bekommen würden.“ Management und Mitarbeiter verzichteten zur dieser Zeit auf bis zu 50 Prozent ihres Gehalts. Erst später hätten die Gründer erkannt, wie sehr ihr Unterstützer an das Projekt glaubte. Nach Jahren der Ernüchterungen ging es bergauf für das junge Unternehmen.
Seit 2009 arbeite Hybris profitabel, sagt Mitgründer Carsten Thoma. Heute verfügt die Software-Firma über mehr als 20 Niederlassungen in 17 Ländern. Dort sind 800 Mitarbeiter beschäftigt – 2011 waren es lediglich 150 gewesen. In München programmieren und vertreiben 200 Beschäftigte die Hybris-Produkte. Dennoch verlegte die Firma ihr Hauptquartier in die Schweiz, einen ihrer größten Wachstumsmärkte innerhalb Europas. Die Schweizer seien schon immer etwas offener gegenüber neuen Technologien gewesen als andere Völker, sagt Moritz Zimmermann. Der Kontinent insgesamt sorgt für 40 Prozent des Umsatzes – in Deutschland entsteht etwa die Hälfte dieser Einnahmen. In den USA fährt Hybris mittlerweile etwa 50 Prozent seiner Umsätze ein, die sich 2012 auf 110 Millionen Dollar beliefen.
Zu den Kunden des Münchner IT-Unternehmens zählen heute bekannte Marken und Händler wie Douglas , H & M, Levis und Deichmann. „Wir haben gezeigt, dass wir es können“, sagt Moritz Zimmermann stolz. Mit Hilfe ihrer Software wollen seine Kollegen und er sämtliche Kanäle, über die Kunden einkaufen und sich Informationen über Produkte suchen, integrieren. „Egal, wie ich mit dem Händler in Kontakt trete – ob per PC, Tablet, Smartphone-App oder im Geschäft – er soll mich als Kunden wiedererkennen und mir Produkte und Informationen, die ich suche, zur Verfügung stellen.“
Show-Rooming und „Regal-Verlängerung“
Was dabei herauskommt? Ungewöhnliche Begriffe und Anglizismen wie Show-Rooming und „Regal Verlängerung“. „Liegt beispielsweise ein Hemd nicht in der passenden Größe im Regal, kann der Verkäufer auf dem Tablet nachsehen, ob es das Hemd vielleicht online gibt“, sagt Zimmermann. „Wenn ja, bietet er dem Kunden an, das Hemd zu bestellen und es kostenlos zu liefern.“ Das Regal würde sich auf diese Weise digital verlängern und dennoch könne der Kunde direkt im Laden bezahlen.
Daneben könnten Käufer zusätzliche Produktinformationen wie Kundenbewertungen und technische Details mittels Show-Rooming erhalten. Das geht ganz einfach: das Smartphone an einen Chip am Regal halten und schon landen die Informationen auf dem Display.
Bier auf der Dachterrasse
SAP , einem der größten IT-Konzerne der Welt mit Sitz in Mannheim, waren die Erfahrungen und Ideen von Hybris letztendlich mehr als eine Milliarde Euro wert. „SAP weiß, dass wir im Bereich eCommerce gute Arbeit leisten – und gerade da möchte der Konzern stärker werden“, sagt Carsten Thoma. Lange Zeit hätten sie klar auf Kurs Börsengang gelegen. „Doch dann haben wir uns entschieden, an SAP zu verkaufen.“ Die Mannheimer hätten dem Hybris-Team versprochen, dass es seine Geschäfte ohne Einschränkungen fortführen kann.
Wie geht es nun für die Gründer weiter? Sie sind noch immer stark in das Unternehmen eingebunden und auf die Karriere- und Wachstumschancen, die SAP ihnen bietet, gespannt. Die Freundschaften unter den vielen Kollegen sollen jedoch nicht darunter leiden – die Arbeit für ihr Unternehmen hat sie zusammengeschweißt. Auf der Dachterrasse des Münchner Büros trinken sie häufig ab 18 Uhr ihr erstes gemeinsames Bier. „Dann tauschen wir uns auch über private Dinge aus.“ Feierabend ist dann jedoch noch lange nicht.
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