Samstag, 15. Juni 2013

+++SCHINDLERS LISTE, oder ihr letzter lebender Name in Deutschland erzählt nun seine Geschichte+++




20 Jahre nach dem Dreh des Holocaust-Films lebt in Deutschland nur noch einer, den Oskar Schindler einst rettete: Michael Emge erinnert sich an seinen Beschützer.

Erst wenn alle fort sind, fühlt er sich sicher. Er wartet, verharrt vor der Rolltreppe eines Kölner U-Bahnsteigs. Bis die Menschen um ihn herum verschwinden, bis er niemanden mehr in seinem Rücken spürt. „Sie kamen meist von hinten, sie schlugen von hinten zu. Dieses Gefühl ist mir geblieben“, sagt Michael Emge über seine Peiniger.

Deswegen dreht er sich heute noch um, bevor er die Rolltreppe nimmt. Sie trägt ihn ganz allein aus dem Dunkel des U-Bahn-Schachts in den Maitag. Emge blinzelt in die Sonne.

Er ist 84 Jahre alt. Ein kleiner, zarter Mann. Er ist der letzte Überlebende in Deutschland, dessen Name auf Schindlers Liste stand. Vor 20 Jahren drehte Steven Spielberg seinen bedeutendsten Film. Ein Denkmal für den Holocaust – und für einen bis dato unbekannten Helden, der 1974 verarmt und vergessen von seinen Landsleuten starb. Oskar Schindler, der Deutsche, der 1200 Todgeweihte rettete, weil er die SS bestach, ihr die Juden mit all seinen Millionen abkaufte. Sie in seiner Emailwarenfabrik in Krakau als kriegswichtige Arbeiter beschäftigte. Und dabei sein eigenes Leben riskierte.

Michael Emge verdankt Schindler sein Leben. „Er war ein guter Mensch“, sagt er heute, als er Platz nimmt in der hintersten Ecke seines Kölner Lieblingscafés. Dann schweigt er für Sekunden. „Privat aber war er auch ein Schuft. Alkohol, Frauen, Geld. Diese drei Dinge waren ihm wichtig.“ Schindler war ein Geschäftsmann, der Hennessy-Cognac, englische Zigaretten und eigentlich alle hübschen Frauen liebte, die ihm begegneten. Er sei auch deswegen gut zu „seinen“ Juden gewesen, weil er reich mit ihnen geworden sei, sagt Emge: „Er war durchaus zunächst auf seinen Vorteil bedacht.“

Zweimal hat der Rentner den berühmten Film gesehen, mit kritischem Blick: „Als kommerzieller Film ist er brillant. Ein Hollywood-Meisterwerk. Als Dokumentation ist er aber eher nicht zu gebrauchen“, sagt er. Auch deswegen will Emge seine Wirklichkeit erzählen.

„Der liebe Schindler trug das blutrote Parteiabzeichen der NSDAP, das dürfen Sie nicht vergessen“, sagt Emge gleich zu Beginn. Den Blutorden, den nur die treuesten Nazis bekamen. Der Eindruck unter den Mächtigen schindete und ihm half, die Menschen zu retten. Schindler machte nie einen Hehl daraus. Doch ausgerechnet dieser Mann, der stets im Maßanzug samt Seidenhemd und mit großer Aura erschien, sollte sich wandeln. Dieser Lebemann, der, wenn er durch seine Fabrik spazierte, eine Wolke seines Rasierwassers nach sich zog, wurde Zeuge der Verbrechen. Er durchlebte eine Charakterwende: Irgendwann kaufte er die Juden nicht länger, um sie als Arbeitssklaven auszubeuten, sondern um sie zu retten. Alte, Kranke, Kinder. Wie Michael Emge, damals zwölf Jahre alt. Bis heute weiß Emge nicht, wer da wohl für ihn warb, ihn auf die Liste zu setzen.

Er vermutet, dass es der SS-Kommandant des Ghettos Bochnia, Franz Müller, war, der Emge half und seinen guten Draht zu Schindler ausspielte. In Bochnia musste Emge mit seinem jüdischen Vater und seiner katholischen Mutter seit 1939 leben, aus seiner Heimat nahe Krakau vertrieben.

Von dort später als „Halbjude“ ins KZ Plaszow deportiert, entging der Junge dem Tod auf spektakuläre Art. Er hört sie heute noch, die Kinderlieder auf den Schellack-Platten, die die SS-Männer über Lautsprecher im ganzen Lager an diesem Tag erschallen ließen. „Mamatschi, schenk mir ein Pferdchen“ oder „A jiddische Mame“. Ganz so wie in jener Filmszene, in der die SS-Wachen Hunderte Kinder auf Lastwagen treiben, um sie nach Auschwitz ins Gas zu bringen. „Die Mütter liefen hinter den Lastwagen her, schrien: ,Unsere Kinder! Unsere Kinder!´ Da kurvten die Fahrer der Wagen hin und her und überfuhren ein paar der Mütter.“ Emges Stimme bricht.

Einige Kinder schafften es kurz zuvor in Verstecke, sprangen sogar in die Jauche der Latrinen, die ihnen bis zum Hals stand. Wie im Film. Doch Michael Emge hatte sich kein Versteck überlegt.

Ein Wachmann trat auf ihn zu, zerrte ihn über den Schotter: „Du musst zu den Hunden! Los!“ Er schleifte den Jungen zu den Zwingern mit den Wachhunden, abgerichtet darauf, Menschen zu fassen und zu zerfleischen. Unter ihnen die beiden Doggen des sadistischen Kommandanten Amon Göth, im Film von Ralph Fiennes gespielt.

„Wie ein König ritt Göth auf seinem Pferd durch das Lager“, erinnert sich Emge. Seine Doggen, Rolf und Ralf, hinterher. Ein Wort von Göth reichte, und sie stürzten sich auf die Gefangenen.

Tage zuvor schon befahl man Emge, in den Zwinger zu gehen, um die Hunde zu versorgen. Es wäre sein Todesurteil gewesen, wäre ihm nicht die Idee gekommen, den Schäferhund des Ghetto-Kommandanten Müller, um den er sich kümmern durfte, mit hineinzunehmen.

Und so trat er mit ihm in den Zwinger, todesmutig. Die Doggen, sie überragten den Jungen. Doch sie beschnupperten ihn nur. Und Emge streichelte sie. Er weiß es noch wie heute, wie weich sich die Schnauzen der Bestien anfühlten.

Den Hunden ist Michael Emge in seinem ganzen Leben treu geblieben. Immer hatte er einen Begleiter an seiner Seite. Zuletzt einen Jack Russell Terrier.

Die Wunden von damals sind Emge geblieben, die seelischen und die körperlichen. Er krempelt sein Hosenbein hoch bis über das Knie. Eine bizarre Narbe erstreckt sich dort über jene Stelle, an der ihm ein KZ-Arzt im Lager monatelang eine halboffene Dose mit Läusen ans Bein fesselte. Die Tiere fraßen sich ins Fleisch.

Das ist alles, was er von seinen eigenen Leiden erzählt. Er berichtet lieber von jenen der anderen. Von dem Arbeiter in der Schindler-Fabrik, den Kommandant Göth erschießen lassen wollte. Wie es die Filmszene nachstellt, ging der Mann auf die Knie, ein SS-Mann zielte auf seinen Kopf, drückte ab, aber es löste sich kein Schuss. Andere SS-Männer kamen hinzu, versuchten ebenfalls, den Mann zu erschießen, der um sein Leben flehte. Doch auch ihre Pistolen gaben keinen Schuss ab. Er überlebte.

Woher nahm er die Kraft, als einziger von 65 Familienangehörigen zu überleben? „Ich stand allein. Wie eine Säule.“ Bis heute sitzt und geht Emge sehr aufrecht. Vielleicht war es die Hoffnung, die ihn geradehielt, die Aussicht, seine Mutter wiederzusehen, die auch auf der Liste stehen sollte. Die getrennt von ihm in der Schindler-Fabrik in Krakau arbeitete, während er der Lagerwerkstatt im KZ Plaszow zugeteilt war.

1944 sollten alle „Schindler-Juden“ in die neue Fabrik des Industriellen nach Brünnlitz verlegt werden. Dafür hatte Schindler seine legendäre Liste anfertigen lassen. Doch Emges Mutter stieg in den Zug, der die Frauen – wie im Film gezeigt – nicht ins rettende Brünnlitz, sondern fälschlicherweise nach Auschwitz fuhr. Ihr Sohn blieb allein zurück.

„Ich habe mir in meiner Fantasie immer den Moment ausgemalt: den Tag, an dem ich meine Mutter wiedersehe, wie wird er wohl sein?“ Die Hoffnung, sie trug ihn bis ans Ende des Jahres 1945. Dann erst erfuhr Emge, dass seine Mutter in Auschwitz verraten wurde. Eine Mitgefangene hatte sich für sie ausgegeben. Die wurde gerettet, so wie fast alle anderen „Schindler-Frauen“, die Auschwitz wieder verlassen durften. Michael Emges Mutter aber blieb und kam um. Von da an lebte Emge mit einem Gefühl, das ihn nie mehr losließ und für das es das deutsche Wort „mutterseelenallein“ gibt.

Gebetet hat er damals oft. Bis heute tut er es, mehrmals am Tag. Es sind die einfachen katholischen Gebete, die ihn die Mutter gelehrt hatte. Mit denen er sich an den lieben Gott im Himmel wendet.

Das Buch „Spiel mir das Lied vom Leben“, das die Journalistin Angela Krumpen mit und für ihn geschrieben hat, erzählt von Emges Leben und seiner großväterlichen Freundschaft zu dem Mädchen Judith Stapf, das wie Emge schon als Kind virtuos auf der Geige spielt.

Bis „Schindlers Liste“ in die Kinos kam, sprach Emge selbst kaum von sich. Sogar seiner Frau konnte er erst nach zehn Jahren Ehe vom Unsagbaren berichten. 2010 feierten sie Diamantene Hochzeit. „Ich sage Ihnen: Ja, es gibt sie, die Liebe fürs Leben.“ Seiner Frau vertraut er. Den meisten anderen Menschen nicht. Als er vor 20 Jahren begann, unter seinem richtigen Namen als Augenzeuge aufzutreten, erreichten ihn so viele Drohbriefe und -anrufe, dass er sich seitdem auf Anraten der Polizei Michael Emge nennt.

Nach dem Krieg studierte Emge in Polen Musik. Er spielte dort in einem Orchester. 1966, zum Prozess gegen seinen alten SS-Ghetto-Kommandanten Franz Müller, reiste Emge von Israel, wo er damals lebte, nach Deutschland. Und blieb. Er arbeitete als Barmixer in einem Düsseldorfer Hotel. Und zuletzt als Verkäufer in einer Karstadt-Filiale in Köln.

Geblieben ist ihm die Liebe zur Musik. Sie hüllt ihn ein, heilt ihn, wenn das Grauen der Vergangenheit ihn übermannt. Dann legt er in seiner kleinen Wohnung die alten Kassetten in den Recorder und taucht in die Welten von Tschaikowsky und Brahms ein. An guten Tagen lässt er Sammy Davis Jr. singen.

Doch in der Stille mancher Nächte kehren die Erinnerungen zurück. Immer, wenn er von seiner Vergangenheit erzählen soll. Schon Nächte zuvor lässt ihn das Gestern hochschrecken. Und mit den Bildern kommt ihm seine Häftlingsnummer in den Sinn. Immer als Erstes. Als müsste er sie noch heute laut vor sich hersagen, steht über allem jene Zahl: 73 693. Seine Stimme klingt erschöpft, wenn er vom Rauch erzählt, den er atmete, als die SS die Baracken im Ghetto Bochnia niederbrannte und in die Flammen Menschenleichen warf. Er erinnert sich, wie sich der süßliche Gestank festsetzte in seinem Hals und dass Asche vom Himmel regnete, ganz wie bei Spielberg.

Der Film unterschlage aber, welche wichtige Rolle Schindlers Frau Emilie gespielt habe. „Sie versorgte uns mit Essen. Ihr Mann war der Prinz, der sich nicht um solche Kleinigkeiten kümmerte. Sie aber schmuggelte auch die Brillanten nach Berlin, um die Schindler-Frauen, die nach Auschwitz deportiert wurden, zurückzuholen.“ Im Film ist es Schindler selbst, der die Edelsteine dem Kommandanten von Auschwitz bringt.

Kurz vor Kriegsende kam der Tag der Befreiung. Und des Abschieds. Schindler trat ein letztes Mal vor die Arbeiter in seiner Fabrik in Brünnlitz. Emge hört bis heute, wie jemand anfing, jüdische Lieder zu singen, und alle einstimmten.

„Die Klänge umwoben mich, zogen in mich ein. Einen Moment atmete ich Hoffnung.“ Diese Szene, im Film verewigt, erlebte Emge als ein typhuskranker, auf 27 Kilo abgemagerter 15-Jähriger. Er stand neben dem Arbeiter, der seine Goldzähne gab, um aus ihnen ein Abschiedsgeschenk für Schindler zu schmieden. „Er hat geschrien. Mit einer Zange haben sie ihm die Zähne herausgerissen.“ Das Gold schmolzen sie ein und gossen daraus einen Ring.

Oskar Schindler ging nach dem Krieg nach Regensburg, München und Argentinien. Sein alter Erfolg kam nie mehr zurück. „Er konnte nicht mit Geld umgehen, er hatte alles verzockt“, sagt Emge. Schindler kehrte heim nach Deutschland, mietete ein schäbiges Zimmer am Frankfurter Hauptbahnhof und hoffte auf Hilfe. „Doch für viele Politiker war er ein Vaterlandsverräter. Das hat ihn tief gekränkt.“

Viele „seiner“ Juden versorgten ihn mit Geld, Israel ehrte ihn als „Gerechten unter den Völkern“. Doch beim Pokern verspielte er sogar den legendären Ring, berichtet Emge. Das Schmuckstück ist seitdem nie wieder aufgetaucht. „Der heutige Besitzer weiß wahrscheinlich gar nicht, was er an ihm hat“, sagt Emge. In den Ring graviert ist der Vers: „Wer nur ein Leben rettet, rettet die ganze Welt.“

Auch Emge ist nicht viel geblieben aus der Schindler-Zeit, nur ein vergilbtes Stück Papier. Er zieht es behutsam aus der Innentasche seiner Jacke und lächelt: der Entlassungsschein aus Schindlers Krakauer Fabrik. Mit seinem Zeigefinger fährt Emge über die großen Bögen der Unterschrift, als wolle er sie nachzeichnen. Es ist Itzhak Sterns Signatur, die Schrift jenes Buchhalters von Schindler, im Film von Ben Kingsley verkörpert.

Emge möchte nun heimgehen. Vor dem U-Bahn-Schacht wartet er wieder, bis alle vorbeigezogen sind. Er nimmt die Rolltreppe zurück ins Dunkel. Der Zug fährt ein, seine Bremsen lärmen.

Es scheint, als hätte er die letzte Frage überhört: Ob er je wieder glücklich wurde in seinem Leben? Kurz bevor er einsteigt, antwortet er: „Ich war zufrieden in meinem Leben, aber glücklich? Nein, glücklich wurde ich nie mehr.“

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