Sonntag, 23. Juni 2013

+++70 JAHRE "DAS GLASPERLENSPIEL" VON HERMANN HESSE, oder warum nicht alles auserzählen?+++


Ein Meisterwerk der Abstraktion, ein Pendant zu Prousts „Recherche“ und ein magisches Theater in der Psyche des Autors: Was Hermann Hesses „Das Glasperlenspiel“ heute noch an Geheimnissen zu entbergen hat.

Als Thomas Mann 1938 nach Amerika übersiedelte, erklärte er „schlicht und recht“, wie sein Bruder das nannte: „Wo ich bin, ist die deutsche Kultur.“ Sein ferner Bruder oder doch Cousin im Geiste, Hermann Hesse, war zur selben Zeit, einige tausend Kilometer weiter östlich in jedem Sinne, bereits einen Schritt weiter. Denn obwohl er es bezeichnenderweise nicht tat, hätte er in mancherlei Hinsicht sagen können: Wo ich bin, ist die Kultur. Und zwar keineswegs nur die deutsche.

Seit der ersten Begegnung vor mehr als dreißig Jahren ist "Das Glasperlenspiel" derjenige von Hesses Romanen, der es mir am meisten angetan hat. Nicht nur kam er mir immer am geheimnisvollsten und inkommensurabelsten vor, ich habe ihn auch vom ersten Moment an als sinnlich anschauliche Lektüre geliebt.

Mit einem lateinischen Auftakt

Gerade diese Behauptung will gerechtfertigt sein, gilt doch Hesses letzter Roman gemeinhin als ein dünnes, blutleeres, unsinnliches Werk, als - wie es Joachim Kaiser in einer Kritik nannte - „Science Fiction der Innerlichkeit“. Und auch Kenner, Liebhaber und Verteidiger Hesses sind mit ihrem Latein am Ende, wenn es daran geht, die Perlen aufzufädeln.

Mit Latein beginnt indessen alles: „Nihil adeo necesse est ante hominum oculos proponere ut certas quasdam res ...“ - zu deutsch: „Nichts ist notwendiger den Menschen vor Augen zu stellen, als gewisse Dinge, deren Existenz weder beweisbar noch wahrscheinlich ist, welche aber eben dadurch, daß fromme und gewissenhafte Menschen sie gewissermaßen als seiende Dinge behandeln, dem Sein und der Möglichkeit des Geborenwerdens um einen Schritt näher geführt werden.“

Gezeichnet Albertus Secundus. Als fiktive Herausgeber und Übersetzer ins Lateinische nennt Hesse Clangor und Collofino. Halten wir uns kurz bei diesen Namen auf: Albertus Magnus, der große Kirchenlehrer und Wegbereiter der modernen Naturwissenschaft, ist somit einer der Stichwortgeber des Glasperlenspiels, weswegen dessen Erfinder Hesse sich hier als Albertus Secundus in die Nachfolge stellt. Clangor und Collofino waren, wie wir heute wissen, Franz Schall und Josef Feinhals, zwei von Hesses Lateiner-Freunden. Spielereien also und private Jokes gleich im Motto? Wir werden sehen, dass es sich um viel mehr handelt.

Auch ich habe mich, Lektüre um Lektüre, dem Kern dieses „Büchleins“ um ein weniges angenähert. Ohne dass dies je geplant gewesen wäre, habe ich das Glasperlenspiel etwa alle zehn Jahre wieder gelesen, das erste Mal mit zwanzig, das vierte Mal mit fünfzig und nun noch einmal, um zu versuchen, meine neuesten Erkenntnisse zusammenzufassen. Denn bei jeder neuen Lektüre habe ich neues in dem Roman gesehen, verstanden und entdeckt und durfte feststellen, was ich zuvor alles noch nicht verstanden und entdeckt hatte und dass dieses Buch tatsächlich ein unversieglicher Quell ist, der den Durst eines Zwanzigjährigen ebenso zu stillen mag wie den eines Fünfzigjährigen, ohne dass das Wasser je schal schmeckt.

Kritik von zeitloser Gültigkeit

Gleich bei der ersten Lektüre blieben mir die Passagen unvergesslich, in denen Hesse in wenigen Strichen eine Atmosphäre größter Sinnlichkeit beschwört, das Kapitel Berufung mit dem gemeinsamen Musizieren zwischen dem Knaben Knecht und dem Musikmeister oder auch das Ende mit der Reise ins Gebirge, dem Flötenspiel, dem See - hier kommen die proustischen Qualitäten Hesses in nuce zum Tragen. Für den Zwanzigjährigen leuchteten sie wie Blüten aus dem dunklen Dickicht der Konstruktion.

Das nächste an diesem Buch, das mir Eindruck machte und seither nicht aufgehört hat, mir Eindruck zu machen, ist die Beschreibung des feuilletonistischen Zeitalters. Bei meiner ersten Lektüre sah ich dieses feuilletonistische Zeitalter noch ganz als Kritik an der Periode, die Hesse und die auch ich selbst überschauen konnte, vom späten 19. Jahrhundert bis in die dreißiger Jahre und dann bis in die siebziger und achtziger Jahre des Zwanzigsten, eine Kritik an den Zeitungen und dem Fernsehen. Wie prophetisch aber diese Abhandlung ist, wird erst richtig deutlich seit dem Beginn des elektronischen Informationszeitalters, seit der Weltrevolution der plappernden Ich-auch-Selbstvergewisserung durch das Internet 2.0 und seit der großen Krise des kapitalistischen Weltbewusstseins der letzten Zeit.

Mit einem zeitaufwendigen Verfahren zur Zeitlosigkeit

Meint man nicht, die modernen Kapitalismus-Kritiker der Occupy-Bewegung sprechen zu hören, wenn es heißt: „Wenn das Denken nicht rein und wach und die Verehrung des Geistes nicht mehr gültig ist, dann gehen bald auch die Schiffe und Automobile nicht mehr richtig, dann wackelt für den Rechenschieber des Ingenieurs wie für die Mathematik der Bank und Börse alle Gültigkeit und Autorität, dann kommt das Chaos“? Und hat man nicht den absurden Eindruck, Hesse habe Richard David Precht gekannt, wenn er von den „Philosophen mit den Feuilletonfabriken“ spricht und ihren „hinreißenden Vorträgen in überfüllten Sälen mit Applaus und Blumenspenden“?

Wie Hesse es gemacht hat, dass seine Kulturkritik mit den Zeitveränderungen Schritt hält liegt an der Konstruktion seines Hauptwerkes, die im Eindampfen aller Zeiterscheinungen eines Phänomens und in der Konzentration auf die diese Erscheinungen je und je hervorbringenden grundlegenden Strukturen besteht. Charles Baudelaire beschrieb diese Vorgehensweise so: „Es handelt sich darum, von der Mode das loszulösen, was sie im Flüchtigen an Ewigem enthält.“

Dieses Konstruktionsprinzip erklärt auch, warum Hesse, der zuvor alle seine Bücher in kurzen, Wochen oder allenfalls Monate dauernden Schaffensräuschen geschrieben hatte, sich diesmal zehn Jahre Zeit nahm und nehmen musste.

Das Prinzip Kastalien als fünfte Dimension

Da ist der vielbesprochene „utopische“ Roman, das, was Kaiser „Science Fiction“ genannt hat. Der Rückblick aus der fernen in eine nicht ganz so ferne Zukunft. Aber diese Zukunft besteht aus Fußreisen wie zu Taugenichts’ Zeiten. Von Waldzell bis Hirsland, sprich: von Montagnola bis Bern, dauert es auch mit der „Eilpost“ einen halben Tag, der „Reisewagen“ des Magisters könnte ebensogut wie von einem Motor von einem Pferdegespann gezogen werden - und dennoch kann der phantasievolle Leser sich die landesweite Übertragung des Jahresspiels auch per Flachbildschirm und Livestream vorstellen, ganz abhängig davon, wann er dieses Buch liest, ob 1943 oder 2013. Alles, was Zukunftsromane häufig so lächerlich und kurzlebig macht, nämlich gerade die Technikfantasien, hat Hesse klug ausgespart und vermieden. Indem er sich damit begnügt zu zeigen, wie der Geist sich verändert hat, kann er auf die Erfindung der nachgeordneten Kontingenzen verzichten.

Der Autor hat selbst häufig erklärt, dass das Prinzip Kastalien und das Glasperlenspiel nicht in die Zukunft gehört, sondern zu aller Zeit da war. Und genauso setzt er es in die Zeit: nicht mechanisch ans Ende des Pfeils, sondern er stülpt es als eine zusätzliche Dimension auf unsere vier vorhandenen. Auch hier also wieder ein Konzentrationsprozess, eine Reduzierung aufs Essentielle, ein Weg aus der Fülle in die Abstraktion, eine Einladung an den Leser.

Ein Gegenpol zum „Doktor Faustus“

Abstraktion ist das Schlüsselwort zum Verständnis des Glasperlenspiels: eine Abstraktion, die nicht aus Ahnungslosigkeit und mangelndem humanen Zugriff kommt, sondern aus einem allumfassenden Destillierungsprozess, an dessen Ende offenbar nur die Essenz einer ganzen Kette von Überlegungen, einer ganzen Bibliothek eingesparter Texte aufgeschrieben ist.

Dabei fallen mir einige Zeugnisse aus der Entstehungsgeschichte des Romans ein, und langsam beginnen die Puzzleteile ineinanderzugreifen: Hat Hesse die Einführung ins Glasperlenspiel nicht viermal umgeschrieben, um jeglichen direkten Anklang ans konkret Tagespolitische zu vermeiden? Vergessen wir nicht, dass die urspüngliche Konzeption von 1931/32 stammt, das Glasperlenspiel also keine Reaktion auf die Nazis, sondern eine auf die Krisenzeit ist, die sie dann logisch hervorbringt. Alles hat er getilgt, was das Buch auf den Zeitraum seines Entstehens fixiert hätte, das Gespräch Knechts mit dem Führer der Diktatur, die Zerstörungswut der besitzlosen Massen, die, einer frühen Idee zufolge, Kastalien irgendwann kurz und klein schlagen sollten - das Glasperlenspiel erweist sich also als ein Gegenpol zum Dr. Faustus, der die deutsche Entwicklung hin zum Nationalsozialismus frontal ins Visier nimmt und dessen Verfasser bei der Lektüre des Hesse’schen Werkes und auch in den um diese Zeit gewechselten Briefen immer ein wenig den Verdacht hegte, Hesse mache es sich hier im Gegensatz zu ihm im Unpolitischen bequem.

Der Irrtum könnte nicht größer sein. Nicht nur wissen wir, dass Hesse länger als Mann ein politisch wacher Zeitgenosse gewesen war und ebenso wie dieser wegen seiner Frau und deren Familie im Fokus der deutschen antisemitischen Politik stand - Thomas Manns ein wenig herablassende Vermutung ist auch deswegen falsch, weil Hesse einfach eine Dimension weiter dachte. Er hatte das deutsch-spezifische an der Jahrhundertkrise schon längst eingedampft und als eine, aber nur eine Facette seiner Zeitkritik ins Werk eingebaut.

Konzentration also, wohin man schaut in diesem Roman, an dem so viele Leser, ihn missverstehend, die breite Schilderung vermissten. Was war mit der Liebe, mit den Frauen? Hesse mochte seinen enttäuschten Lesern noch so eindringlich erklären, sie sollten und durften sich jede außergewöhnliche Frau der letzten tausend Jahre nach Kastalien hineindenken, und selbstverständlich sei auch Josef Knecht, vor allem als junger Mann, verliebt gewesen und habe Frauen gekannt - es half nichts: Warum war es dann nicht alles ausgeführt? Warum war es dann nicht alles auserzählt?

Nach den Gesetzmäßigkeiten des Ouroboros'

Die Struktur erlaubt es, es liegt also nur am Leser selbst, die Leerstellen in eigener kreativer Mitarbeit zu füllen. Aber hier erhoffte sich Hesse wohl Leser, die es damals, Jahrzehnte vor der „fan-fiction“, noch nicht gab. Die „dünne, reine Luft“ dieses Werks ist ganz offensichtlich keinem Nachlassen der künstlerischen Kräfte zuzuschreiben ist, sondern Absicht. Hesse konnte auch zu dieser Zeit ganz anders: Im Laufe der Entstehung des Glasperlenspiels beging sein Bruder Hans Selbstmord, woraufhin im Jahr 1936 einer von Hesses sinnlichsten, psychologisch reifsten, detailgesättigtsten und proustischsten Texten entstand, die Erinnerung an Hans. Mir sind in den letzten Jahren ohnehin mehr und mehr Parallelen zwischen Proust und Hesse deutlich geworden, die beiden gemeinsame Fähigkeit detailliertester Erinnerungsevokation zum Beispiel, und eine davon hat mir den Schlüssel gegeben, um das Glasperlenspiel ganz neu zu verstehen und die Logik seiner Unterteilung in die Geschichte Kastaliens, die Lebenschronik Knechts und dessen Texte, die drei beziehungsweise vier Lebensläufe und die Gedichte zu erfassen.

Am Ende der siebenbändigen Recherche beschließt Marcel, jenes Buch über die „verschwendete“ Zeit seiner Künstlerwerdung zu schreiben, das wir soeben gelesen haben. Die Recherche ist ein Ouroboros, die Schlange, die sich in den eigenen Schwanz beißt und damit den Kreis schließt, ein autarkes, selbstreferentielles System, das das All im Einen symbolisiert.

Gegenstand ist „The life and times of“

Und genau das gleiche gilt auch für das Glasperlenspiel. Es ist ein Ouroboros in Form des Yin-und-Yang-Symbols, der Einheit, die alle Polarität umfasst. Das gilt allerdings, mutatis mutandis, nur für das Buch Glasperlenspiel, nicht für das Spiel selbst, das nur einer der Pole ist, die im dialektischen Kampf und Widerspiel erst gemeinsam das Tao, die Gesamtharmonie ergeben. Der andere Pol ist Knecht, das Individuum. Beide zusammen schaffen ein ebenso geschlossenes, rundes System wie Prousts Werk: So wie dieser den Weg zur Künstlerwerdung mit einem Werk vollendeter Kunst beschreibt, erschafft Hesse die Geschichte des Glasperlenspiels und seines Meisters in einem Glasperlenspiel.

Das meine ich nicht etwa in der vagen und fast schon pejorativen Form, in der es Mode geworden ist, alle intellektuelle Beschäftigung, die sich nicht auf konkrete Ziele richtet, als „Glasperlenspiele“ abzutun, auch nicht auf die ebenso vage feuilletonistische Lesart, fast jeden komplexen modernen Roman von Mann über Musil bis Bolaño hilflos als „Glasperlenspiel“ zu bezeichnen. Ich meine es ganz konkret. Nach den Regeln des Glasperlenspiels ist das Glasperlenspiel ein Glasperlenspiel. Thema dieses Spiels ist nicht das „chinesische Haus“ wie in Knechts erstem Festspiel als Magister, Thema ist das, was die Engländer „The life and times of“ nennen, Thema ist die geschichtliche Epoche, das Leben und Werk und die geistige Welt Hermann Hesses, kulminierend in seinem Roman Das Glasperlenspiel.

Größe, Erbärmlichkeit und Neurose des Zeitalters

Somit wird deutlich, was Hesse sich tatsächlich vorgenommen und womit er diese zwölf Jahre verbracht hat: nämlich mit nichts Geringerem, als auf der Basis seiner gesamten Epoche und Existenz, auf der Basis seiner Erinnerungen, Erkenntnisse, seines Erlebens und Lebens ein Glasperlenspiel zu komponieren, das heißt eine Fülle von Leben und Geist, die komplett erzählt einen Strom von 100.000 Seiten ergeben hätte, zu den Abbreviaturen und Formeln zu kondensieren und zu abstrahieren, mit denen das Spiel das Weltwissen und seine Verknüpfungen erlebbar macht.

Dass es sich so verhalten muss, wurde mir beim Wiederlesen des Studienkapitels deutlich, in dem Knecht Jahre damit verbrachte, ein einziges Glasperlenspiel in die Komponenten zurückzuübersetzen, aus denen es zusammengesetzt war.

„Knechts Studienjahre galten nun (...) der Aufgabe, die im Spielplan enthaltenen Inhalte, Prinzipien, Werke und Systeme des genauesten kennenzulernen, im Lernen einen Weg durch verschiedene Kulturen, Wissenschaften, Sprachen, Künste, Jahrhunderte zurückzulegen“, heißt es dort.

Hesses Roman geht genau den umgekehrten Weg. Aus den Kulturen, Sprachen, Künsten, die er in seinem sechzigjährigen Leben kennengelernt hatte, aber auch aus seinen Erfahrungen, aus seinem lebenslangen Bedürfnis, Gerichtstag zu halten über sich selbst, formte er das Spielschema dieses - allerdings sehr unkonventionellen - Romans. Das Thema jedoch, das diese Inhalte engführt, ist Hesse selbst. Das ganze Glasperlenspiel ist magisches Theater in Hesses Kopf, Kultur- und Weltgeschichte in Hesses Körper, philosophische Zusammenschau von Taoismus und Pietismus in Hesses Seele.

Zwölf Jahre lang - zwölf welthistorisch fürchterliche Jahre - spielt er mit sich selbst Glasmurmeln, aber nicht etwa weil der Roman, wie Hans Mayer vermutete, ein „Werk des Alters und der Einsamkeit“ war. Wenige Künstler waren so wenig einsam wie Hesse, man soll sich von seiner mürrischen Abwehrgeste nichts vormachen lassen, er war fast beständig von Freundinnen, Freunden, Diskussions- und Zechkumpanen umgeben.

Knecht selbst als Leser von Hesses Werk

Nein, er spielte deswegen mit sich selbst, weil er wusste, dass die Weltkulturgeschichte, die ihm vorschwebte, auch durch ihn selbst hindurchging, dass er es alles auch in sich selbst und im eigenen Leib hatte, Größe und Erbärmlichkeit und Neurose des Zeitalters. Er wusste, dass von sich zu sprechen eben auch hieß, von der Krise der Zeit überhaupt zu sprechen, nicht nur von der deutschen Misere, wie es Thomas Mann unternahm. Deshalb war das Thema dieses Glasperlenspiels Hermann Hesse, und deshalb ist quasi alles und jeder, der in diesem Glasperlenspiel vorkommt und Spielmaterial wird, Hermann Hesse selbst. Liest man das Buch daraufhin durch, sind die Belege Legion: zunächst einmal die Zitate aus den eigenen Werken.

In der Analyse des feuilletonistischen Zeitalters zitiert der Chronist die „Musik des Untergangs“, die schon in Klingsors letzter Sommer ertönte, und erklärt den selbsterfundenen Bund der Morgenlandfahrer zu Krypto-Gründern Kastaliens. Auf den Steppenwolf verweisen diese Zeilen über die klassische Musik als Inbegriff der kastalischen Kultur: „Es ist immer ein Klang von übermenschlichem Lachen darin, von unsterblicher Heiterkeit.“ Und so heißt es denn auch folgerichtig über die Ursprünge des Spiels: „Es wurde (...) nicht selten auch mit einem Ausdruck bezeichnet, welcher noch aus der Dichtung der feuilletonistischen Epoche stammt: magisches Theater.“ Und auch Josef Knecht selbst, so könnte man sagen, hat seinen Hesse gelesen, denn in seinem Schreiben an die Erziehungsbehörde erwähnt er die Sitten in der Republik der Massageten, die in einer seiner satirischen Erzählung aus dem Jahre 1927 das Licht der Welt erblickt hatten.

Nicht nur aus Hesses Werk speist sich das Glasperlenspiel, auch aus seinem Umfeld. Schall und Feinhals sind schon erwähnt worden. Der Bund der Morgenlandfahrer, diese Vordenker Kastaliens, setzt sich ja, außer aus literarischen Gestalten, die für Hesse wichtig waren, auch aus seinem Freundeskreis zusammen, der somit ebenfalls in die pädagogische Provinz gebeamt wird, die gewissermaßen wie ein Astralkörper über dem geographischen Raum der Schweiz plus Württembergs liegt.

Vor allem aber scheint Hermann Hesse, der Mensch selbst, in seinen verschiedenen Lebensstufen und -zuständen hinter beinahe jedem Charakter des Romans ganz oder teilweise auf. Das beginnt bei Wortspielereien wie dem Namen des kastalischen Historikers Plinius Ziegenhalß, einer selbstverspottenden Anspielung auf Hesses Physis: der lange, sehnige Hals, der „Vogel“- oder „Sperberkopf“. Wann immer wir in Hesses Prosa solche Hälse und Köpfe finden, sehen wir ein Selbstporträt. Das gleiche gilt für den legendären Magister Ludi, der das Knecht so hilfreiche Tagesbrevier geschrieben hat: Ludwig Wassermaler ist natürlich außer dem Malerfreund Louis Moillet der aquarellierende Hesse der zwanziger Jahre.

Ein Porträt Jakob Burckhardts

Der „Schweizer Musikgelehrte und Mathematiker“, der „dem Spiel eine neue Wendung und damit die Möglichkeit zur höchsten Entfaltung“ gab, indem er eine „neue Zeichen- und Formelsprache“ erfindet, wird der „Lusor“ oder „Jokulator Basiliensis“ genannt. Die Initialen deuten zwar auf Jakob Burckhardt oder auch auf Johann Bernouilli hin, den Vorfahren von Hesses erster Frau Mia, aber trotz dieser Augenzwinkerei ist es klar, das hinter dem „Basler Jongleur“ kein anderer steckt als Hesse selbst.

Dieses „Von Hesse, durch Hesse, über Hesse“ geht aber tiefer als das, was Thomas Mann „viel Scherz im biografischen Forscherstil, Namenskomik“ nannte.

Pater Jakobus, der Historiker der Benediktiner, der Kastalien für Knecht in eine historische Perspektive rückt, gilt zurecht als Porträt Jakob Burckhardts. Seine Züge zumindest aber hat er von Hesse, wie folgende Beschreibung verdeutlicht: „Damals etwa sechzig Jahre alt, ein hagerer, ältlicher Mann mit einem Sperberkopf auf langem, sehnigem Halse“.

Noch tiefer ins Charakterliche geht es bei der Beschreibung von Fritz Tegularius, dem kastalischen Décadent und Spielvirtuosen, in der Hesse die Nachtseiten des eigenen Charakters schonungslos darstellt, nämlich „Unbotmäßigkeit“, „pessimistische(n) Witz“ und „ewiges Studententum“. Eine Selbstcharakteristik, die zumindest Hesses Frauen sofort unterschrieben hätten. Eine andere, gegensätzliche, ebenso wahre, formuliert Plinio Designori: „Er war ein viel größerer Schelm, als seine Leute ahnten, voll Spiel, voll Witz, voll Durchtriebenheit, voll Spaß am Zaubern, am Sichverstellen, am überraschenden Verschwinden und Auftauchen.“

Aber auch Plinio Designori, um es damit genug sein zu lassen, ist Hesse, ebenso wie Knecht selbst, wie Tegularius, Jakobus, der ältere Bruder und alle anderen Gestalten des Buches. Sein Gesicht, das Gesicht des gescheiterten, gealterten Weltmenschen, ist wiederum das seines Schöpfers: „Eine rührende, halb krankhafte, halb schicksalhafte Trauer, Vereinsamung und Hilflosigkeit“ ist darauf zu lesen, und warum Hesse sich selbst multiplizierte und spiegelte, um sein Zufluchtsreich des Geistes zu erschaffen, erklärt der nächste Satz, der sagt, dass „dies Gesicht die Bestimmung (habe), Stellvertreter von vielen zu sein und das geheime Leiden und Kranksein vieler sichtbar zu machen.“

Ein Spiel, das alles? Das Spiel eines alten Mannes? Ja, gewiss, so heißt das Buch ja auch, aber eben doch ein höheres Spiel. Die „wütende Leidenschaft für das eigene Ich“, die Heinrich Mann in jungen Jahren seinem Bruder Thomas vorgeworfen hatte, auch Hesse besaß sie, litt unter ihr, lebte sie dennoch aus und formte sie zu Kunstwerken. Als sich aus den anfänglichen Plänen einer Reinkarnationsgeschichte, eines utopischen, die Menschheitsentwicklung behandelnden Epos die Idee mit dem Glasperlenspiel zu formen begann, konnte diese Leidenschaft endgültig sublimiert, transzendiert und produktiv gemacht werden.

Heute, fünfzig Jahre nach dem Tod des Autors, haben wir dank der Veröffentlichungen aus dem Nachlass und unzähliger gelehrter Studien die Mittel, die 600-Seiten-Abbreviatur des Glasperlenspiels wieder zurück in die zigtausende von Seiten Epochendarstellung und Künstlerexistenz des 19. und 20. Jahrhunderts zu übersetzen, aus denen sie komprimiert wurde.

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