Montag, 4. Februar 2013

+++DER ARZT VON STALINGRAD+++



Es ist ein deutsches Trauma. Vor 70 Jahren endete die „Schlacht von Stalingrad“. Von 230 000 deutschen Soldaten kehrten nur 5000 zu ihren Familien zurück. 700 000 Menschen starben insgesamt. 

In seinem millionenfach verkauften Roman „Der Arzt von Stalingrad“ setzte Schriftsteller Heinz G. Konsalik dem Kriegsarzt Ottmar Kohler ein literarisches Denkmal.
Doch es gab einen zweiten, bis heute unbekannten Arzt von Stalingrad. Dr. Ernst Müller († 93) aus Gevelsberg (Westfalen) schrieb im Krieg mehrere Tagebücher über seine Erlebnisse in den Front-Lazaretten.
Seine Witwe Karin (68) gab zehn Jahre nach dem Tod ihres Mannes das erschütternde und beklemmende Archiv aus Tagebüchern und Briefen erstmals komplett frei.



► 26.12.1942: Ankunft. Das Thermometer zeigt minus 33 Grad. Was ich als Lazarett vorfand, hat mich trotz minimaler Erwartungen entsetzt. Ein mehrstöckiges, verschmutztes, verwahrlostes Gebäude, durch Bombardierungen fast zur Ruine geworden, jetzt mit 1000 Verwundeten belegt.
Auf meiner Abteilung habe ich mehrere Hundert Verwundete zu betreuen. Seit acht Tagen haben sie keinen Arzt mehr gesehen.

► 31.12.1942: Tausende Verwundete warten in großen Sammelstellen. Ausgehungert, entkräftet. Beispiellos sind die Verluste an Menschenleben. Beim Beladen der Flugzeuge kämpft jeder gegen jeden, um nicht zurückbleiben zu müssen.

► 5.1.1943: Grausam wurde die Hungersnot. Hier und da gab es abscheuliche Anwandlungen von Kannibalismus, verzweifelte Versuche, etwas Essbares zu bekommen.
► 6.1.1943: Als Hilfe habe ich einen russischen Landarzt, zwei Sanitätssoldaten, zwei Schwestern, einige russische Gefangene und Putzfrauen. Alle Grundsätze der Chirurgie, keimfreien Arbeitens und Wundversorgung gelten hier nichts.

► 13.1.1943: Oh Gott, die armen Verwundeten. Sie sind so erschöpft, so restlos erledigt, dass bei einzelnen schon eine kleine Verwundung, die in normalen Zeiten kaum beachtet würde, genügt, um ihrem Leben unaufhaltsam ein Ende zu setzen.

► 16.1.1943: Unerträglich ist der Läusebefall bei Verletzten, deren Gliedmaßen oder Rumpfpartien eingegipst werden mussten. Nicht einmal kratzen können sich die Befallenen bei der elenden Juckerei unter dem Gips. Die heute eingetroffenen Landser aus Stalingrad erzählen uns, dass die russischen Panzer, mit roten Fahnen und Girlanden geschmückt, bei ihren Angriffen mit aufgesessener Infanterie vorpreschen.

► 18.1.1943: Der Intendant eines für Stalingrad zuständigen höheren Verpflegungsamts offenbarte mir heute mit kalter Sachlichkeit: „Vom Verpflegungsamt können wir den Eingeschlossenen nichts mehr schicken. Jetzt müssen sie verhungern.“ Erschreckend ist der Anblick der uns zuletzt Eingelieferten: abgemagert, ausgezehrt, entkräftet, mit grauen, eingefallenen Gesichtern und tief eingesunkenen Augen, andere mit unförmig aufgequollenen Gesichtern und Gliedmaßen.

► 18.1.1943: Unsere abgemagerten Verwundeten liegen – oft nach großen Blutverlusten – hinfällig unter steifgefrorenen Decken. Brennholz für die kleinen Bunkeröfchen in den großen Krankensälen gibt es, nachdem schon die Stühle, Tische, Schränke, Bänke und Türen des Hauses verheizt worden sind, kaum noch. Grauenhaft sind die Folgen der Erfrierungen. Täglich muss ich Arme oder Beine wegen akuter Lebensgefahr abnehmen. Die Schwestern leisten Enormes.

► 24.1.1943: Die Schlacht um Stalingrad nähert sich ihrem Ende. Deutsche Maschinen können im Kessel nicht mehr landen, da der letzte Flugplatz gestern von Russen besetzt wurde.

► 3.2.1943: Heute Morgen Meldung aus dem Führerhauptquartier, dass die Schlacht um Stalingrad beendet sei. Zu Ende geht ein Drama, dessen Heldentum, Tragik und Sinnlosigkeit einmalig sind.

Dr. Müller wurde mit seiner Mannschaft noch am selben Tag nach Dnjepropetrowsk verlegt. Er blieb bis zum März 1944 in Russland, führte in dieser Zeit weiter Tagebuch. Danach arbeitete er an der Uni-Klinik Köln und leitete ein Krankenhaus in Gevelsberg.
Er starb am 9. Juli 2002 in seinem Heimatort.

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