Dschochar Zarnajew liegt schwerverletzt auf der Intensivstation und kann nicht sprechen - aber US-Ermittler setzen alles daran, den mutmaßlichen Bombenattentäter von Boston zu den Anschlägen zu befragen. Der 19-Jährige soll deshalb seine Antworten auf drängende Fragen zu Papier bringen.
Der Schuss ging in den Mund und trat im Nacken wieder aus. Doch das tötete ihn nicht, Dschochar Zarnajew überlebte. Möglicherweise war es ein Suizidversuch, vermutet das FBI mittlerweile. Wollte sich der 19-Jährige auf diese Weise seiner Verantwortung entziehen? Sein Bruder und mutmaßlicher Mittäter Tamerlan war da schon seit Stunden tot, von ihm selbst auf der Flucht überfahren und daran möglicherweise gestorben.
Noch ein knappe halbe Stunde also widersetzte sich Dschochar Zarnajew am Freitagabend, dann gab er auf und ließ sich festnehmen. Vermutlich an diesem Montag soll Anklage erhoben werden.
Der mutmaßliche Attentäter liegt nun auf der Intensivstation des Beth-Israel-Hospitals, keine vier Kilometer vom Ort seines Anschlags entfernt. Und unter einem Dach mit elf seiner Opfer. Selbst wenn er überlebe, hieß es aus dem Krankenhaus, könne er möglicherweise nie mehr selbst sprechen.
Ein Problem für die Ermittler. Setzen sie doch darauf, dass Zarnajew entscheidend zur Aufklärung der Anschläge beitragen kann: Warum haben er und sein Bruder Tamerlan die Tat verübt? Gab es weitere Mittäter oder Mitwisser? Steckt eine Terror-Organisation hinter den Anschlägen? Am Sonntagebend zumindest gibt es Hoffnung für die Verhörer von FBI, CIA und aus dem Justizministerium. Mehreren US-Medienberichten zufolge soll Zarnajew aufgewacht und halbwegs vernehmungsfähig sein.
Heftige politische Debatte
Der TV-Sender NBC berichtet, der mutmaßliche Täter gebe schriftliche Antworten auf Fragen. Laut ABC reagiert Zarnajew allerdings nur sporadisch. Die Polizisten würden sich nach weiteren Mitgliedern der Zelle sowie möglicherweise noch versteckten Sprengsätzen erkundigen. Tatsächlich stehen sie unter einem gewissen Zeitdruck. Denn sie befragen Zarnajew offenbar, wie angekündigt, vorerst ohne Rechtsbeistand und ohne ihn auf sein Schweigerecht hinzuweisen. Das Ziel: So viele Informationen sammeln, wie nur möglich.
Die zuständige US-Staatsanwältin Carmen Ortiz hat seit Freitag deutlich gemacht, dass man sich dafür auf die "public safety exemption" berufen werde: eine Ausnahme von in der Verfasung garantierten Bürgerrechten bei Fällen nationaler Sicherheit und bei potentiellen Terrorvorwürfen. Sie gilt für 24 Stunden. Spätestens wenn Zarnajew dem Haftrichter vorgeführt wird, treten seine Rechte in Kraft.
Übers Wochenende hat in den USA darüber eine heftige Debatte eingesetzt: Bürgerrechtler warnen vor der Einschränkung von Zarnajews Rechten, konservative Politiker um den republikanischen Senator John McCain fordern dagegen sogar, ihn nicht als Verdächtigen wie in einem Kriminalfall zu führen sondern als "feindlichen Terrorkämpfer" einzustufen.
Dadurch könnte er auf unbestimmte Zeit ohne Anklage festgesetzt und letztlich auch vor ein Militärgericht gestellt werden. Allerdings ist Zarnajew, dessen Familie aus Tschetschenien stammt, seit vergangenem Jahr US-Staatsbürger. "Das ist kein Ausländer, den wir auf einem feindlichen Schlachtfeld festgenommen haben, sondern ein Amerikaner, verhaftet auf amerikanischem Boden", sagte der demokratische Kongressabgeordnete Adam Schiff der "Washington Post".
"Keule des Bundesstrafrechts schwingen"
So oder so, im Falle einer Verurteilung könnte Dschochar Zarnajew die Todesstrafe drohen. Die gibt es zwar nicht im Staat Massachusetts, allerdings wird Zarnajew mit großer Wahrscheinlichkeit auch wegen Terrorismus unter Bundesrecht angeklagt werden; und darin ist die Todesstrafe seit 1790 verankert, auch US-Präsident Barack Obama unterstützt sie. So wurde etwa der Oklahoma-Attentäter Timothy McVeigh im Jahr 2001 hingerichtet.
Am Sonntag erklärte die demokratische Senatorin Dianne Feinstein, sie gehe davon aus, dass es solch ein "Todesstrafen-Fall unter Bundesrecht" werde. Bostons Bürgermeister Thomas Menino forderte US-Staatsanwältin Ortiz gegenüber ABC auf, "die Keule des Bundesstrafrechts zu schwingen". Die Brüder Zarnajew hätten eine ganze Stadt für fünf Tage "in Geiselhaft genommen". Er gehe davon aus, dass die beiden allein gehandelt hätten. Aber hatten sie noch weitere Anschläge geplant? Bostons Polizeichef Ed Davis sagte CBS, man habe ein ganzes Arsenal an Sprengsätzen bei den Brüdern sichergestellt. So habe man "allen Grund zur Annahme, dass sie noch weitere Menschen attackiert hätten".
Amerika ist erschüttert und verunsichert, die mutmaßlichen Täter sind das entscheidende Gesprächsthema an diesem Wochenende. Man stellt sich Fragen: Die beiden haben hier gelebt, hier studiert - warum sind sie bloß zu Terroristen geworden? Hat das FBI Hinweise übersehen, als es Tamerlan Zarnajew, der schon jetzt als Kopf des Anschlags gilt, im Jahr 2011 auf Bitten der Russen überprüfte? Und nehmen die USA die falschen Leute auf?
So forderte etwa der republikanische Senator Dan Coats, einst US-Botschafter in Deutschland, die geplante Einwanderungsreform solle mit Blick auf die Ereignisse in Boston "um ein, zwei Monate" verschoben werden. Schließlich gehe es um die nationale Sicherheit, man dürfe jetzt nichts überstürzen, sagte er auf ABC. Präsident Obama hatte noch am Freitagabend gemahnt, über die Tragödie von Boston nicht zu vergessen, was Amerika immer ausgezeichnet habe: "Dass wir Menschen von überallher bei uns willkommen heißen, Menschen jedes Glaubens und jeder Herkunft."
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