Jägermeister-Erbe Stefan Findel will nach und nach sein gesamtes Vermögen spenden. Jetzt spricht er erstmals über seine Kindheit im Schatten des Hirsches, eine Befreiung zu sich selbst - und das große Glück des Gebens.
Der Kräuterlikör von Großvater Curt Mast machte die Familie Findel reich.
Der Mann, der sein Vermögen noch zu Lebzeiten für wohltätige Zwecke spenden will, ist aus der niedersächsichen Kleinstadt Wolfenbüttel angereist. Eigentlich lebt Stefan Findel heute in Amerika, zwei Stunden nördlich von New York. Aber der Einundsechzigjährige hat eine Wohnung im Stammhaus der Firma Mast-Jägermeister, wo er logiert, wann immer er sich für längere Zeit in Deutschland aufhält. Schon sein Großvater, der 1934 den legendären Kräuterlikör mit dem Hirsch auf dem Etikett erfunden hat, wohnte bisweilen in diesem Haus.
Der Erbe liebt es unprätentiös: zu Fuß zum Bahnhof, mit dem Zug nach Berlin und auch dann nur ein Taxi, wenn die Zeit bis zum verabredeten Treffen knapp wird. Findel wirkt unauffällig, er gilt als scheu. Dann aber hat er so viel zu erzählen, dass sein Tee darüber kalt wird.
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Herr Findel, was sagen Sie, wenn Sie nach Ihrem Beruf gefragt werden: Erbe? Philanthrop?
Fotograf. Die anderen Kategorien sind keine Berufe. Erbe ist man passiv, das kommt über einen. Was man damit macht, ist aktiv. Dann käme der Philanthrop ins Spiel.
Nachdem Ihre Mutter, die Tochter des Jägermeister-Erfinders Curt Mast, 2010 gestorben ist, haben Sie Ihr gesamtes Erbe in Höhe von 13,8 Millionen Euro an Unicef gespendet. Warum haben Sie nicht ein bisschen für sich behalten?
Erbe passiert nicht auf einen Schlag, ich hatte schon auf dem Weg der vorweggenommenen Erbfolge etwas bekommen. Es ist also nicht so, dass ich mein gesamtes Vermögen weggeben hätte, sondern nur den Teil, den meine Mutter mir per Testament zugedacht hatte. Da ich mehr zum Leben habe, als ich im Alltag benötige, habe ich den Betrag komplett an Unicef für die Entwicklung neuer Bildungsprojekte gegeben. Das Thema Bildung lag auch meiner Mutter sehr am Herzen.
Wenn Sie sich bisher engagiert haben, wollten Sie und Ihre Frau anonym bleiben. Jetzt geben Sie dieses Interview. Warum?
Im Grunde liegt meiner Frau und mir nichts daran, in der Öffentlichkeit aufzutreten. Aber wenn man über uns in der Zeitung liest, gibt das anderen Leuten in einer ähnlichen Situation den Anreiz nachzudenken. Vielleicht hilft das Unicef und unserem Projekt. Das ist der einzige Grund.
Mit welchen Argumenten würden Sie potentielle Nachahmer überzeugen, Ihrem Beispiel zu folgen?
Ich betrachte die Welt aus der Vogel- oder, noch extremer, aus der Astronautenperspektive. Wir hier in Europa leben auf sehr hohem Niveau, Milliarden Menschen haben es viel schwerer. Das dürfen wir nicht zulassen. Der Stärkere muss dem Schwächeren helfen. Deshalb sollten Leute, die es sich leisten können wie ich, versuchen, die Lebensbedingungen der Armen zu verbessern. Im Grunde ist das nichts anderes, als wenn man einem Freund beim Umzug hilft.
Woher kommt diese Haltung? Gehört soziale Verantwortung zu den Werten, die Ihnen schon als Kind vermittelt wurden?
In meiner Familie standen soziale Aspekte nicht sehr im Fokus. Aber ich habe immer gespürt, dass ich in einer besonderen Familie aufgewachsen bin, die materiell bessergestellt war als viele andere. Das hat mich als Kind bewegt, warum, weiß ich nicht. Ich fand das unfair: Warum ich und nicht jemand anderes?
Wolfenbüttel in den fünfziger, sechziger Jahren: Ein großzügiges Einfamilienhaus am Stadtrand mit eigenen Kinderzimmern für Stefan Findel und seine Schwester. Die Mutter ist Hausfrau, der Vater ein angesehener Arzt, bevor er in die Leitung des Familienunternehmens einsteigt. Die Kinder besuchen eine normale Schule, Stefan kommt meist mit dem Fahrrad. Bei besonders schlechtem Wetter fährt ihn der Chauffeur seines Opas. „Das war ja nur selten, mir aber doch unangenehm“, sagt Findel.
In einer Kleinstadt, in der jedermann die Präsenz der Unternehmerfamilie de facto riechen kann, weil der Großvater den Korn für seinen zunehmend berühmten Likör selbst brennt, ragt der Mast-Enkel, der Jägermeister-Junge ohnehin aus der Masse heraus. Mit dem Schuldirektor ist die Familie befreundet, den Spross behandeln die Lehrer absichtlich streng. Findel kann heute gar nicht sagen, ob er das als Vor- oder als Nachteil empfand. Entscheidend ist, dass er sich anders fühlte. Nicht, weil andere Kinder es ihn hätten spüren lassen. Aber Findel sagt, er sei schon immer ein Einzelgänger gewesen, und wer weiß - vielleicht habe das auch mit seiner Sonderstellung zu tun.
Welche Rolle spielten das Unternehmen, der Hirsch und der Likör im Alltag Ihrer Familie?
Das war absolut präsent. Das einzige wesentliche Gesprächsthema in der Familie war die Firma, darum ging es mittags und beim Abendessen. Aus heutiger Sicht sieht das alles auch finanziell rosiger aus, als es damals war. Mein Großvater war ja Volksschullehrer, hat dann die Weinhandlung seines Vaters übernommen und angefangen, mit Alkohol und Essenzen zu experimentieren. Er hatte aber kein Geld, und ich weiß, dass es oft riesige finanzielle Sorgen gab, Angst, dass man Kredite nicht zurückzahlen könnte, viele Jahre lang. In den fünfziger Jahren noch herrschte in der Familie wirtschaftlich eine sehr angespannte Situation.
War das für Sie als Kind eine Belastung?
Schon. Es war normal, aber es war nicht schön, weil man die Anspannung merkte. Die Gespräche waren oft ernsthaft, als Kind konnte man nichts beitragen, man konnte nur still am Tisch sitzen und zuhören. Und wenn mal das Augenmerk auf uns gerichtet wurde, ging es meistens um die Schule. So war meine Kindheit, was anderes gab es eigentlich nicht. Ich kann mich nicht erinnern, dass unser Vater mal verreist mit uns wäre. Ein- oder zweimal, als ich ganz, ganz jung war. Mein Vater war immer nur Arbeit, meine Mutter Schule, und sonst ging es um die Firma.
Der Weg des Jägermeister-Erben scheint vorgezeichnet: vom Jurastudium über Promotion und Auslandstätigkeiten direkt in die Geschäftsleitung. So jedenfalls stellen sich das die Eltern vor. Aber Findel, der lieber Forstwissenschaften studiert hätte, bricht nach dem Examen aus. Er geht nach New York, um Fotograf zu werden. Heute spricht er vom aufregendsten Jahr seines Lebens und lacht selbst über die Blauäugigkeit, mit der er, der deutsche Jurist, sich bei Stars wie Richard Avedon, Irving Penn und Pete Turner als Assistent bewarb - durchaus mit Erfolg. Aus aufenthaltsrechtlichen Gründen studiert er schließlich in Kalifornien Fotografie.
Was hat Ihnen dieser radikale Schritt gebracht?
Es war eine gewisse Befreiung, weil ich jetzt weg war vom Einfluss meiner Eltern und endlich ich selbst sein konnte. Das schönste war, dass in New York und Los Angeles niemand meinen Namen kannte, solange ich die Marke nicht erwähnt habe.
Und Sie haben Jägermeister nicht erwähnt?
Ich habe Freunde aus den siebziger Jahren, die viel später davon erfahren haben. Erst als ich mal sieben Jahre im Aufsichtsrat der Firma saß, habe ich es auch dem Letzten erzählt. Dann hatte ich so viel Abstand, auch altersmäßig, dass ich sagen konnte, okay, das ist meine Familie. Heute sehe ich das nicht mehr so als Riesending. Aber damals hatte ich das erste Mal das Gefühl, ich bin nicht der Enkel von Curt Mast oder der aus der Jägermeisterfamilie, sondern ich bin Stefan Findel, und keiner weiß, wer Findel ist. Das erste Mal habe ich gesehen, wie andere Leute auf mich und meine Person reagieren und nicht auf das, was dahintersteht.
Wie fanden Ihre Eltern, dass Sie nach New York wollten?
Sie haben reagiert wie viele Eltern, wenn ihre Kinder gehen wollen. Meine Mutter sagte sofort, sie würde alles tun, um das zu verhindern. Das war etwas emotional. Mein Vater hat gar nichts gesagt. Letztendlich konnten sie nichts machen, aber sie waren sicher nicht glücklich.
Haben die Eltern nachträglich ihren Frieden damit gemacht?
Einen gewissen Frieden hat es gegeben, als ich in den Aufsichtsrat gegangen bin. Da war Not am Mann, und weil es jemand aus der Familie sein sollte, hat meine Mutter mich gebeten. Das hat zu einer gewissen Versöhnung geführt.
Das war 1997. Stefan Findel lebte damals schon längst wieder in Deutschland. Wann immer er ein selbstgestecktes Ziel erreicht habe, werde es ihm langweilig, sagt er. Wenn er dann erzählt, wie er sein erfolgreiches Studio als Werbefotograf in Atlanta samt Coca-Cola-Aufträgen aufgab, um sich ein Forstgut mit 500 Hektar Wald in der Lüneburger Heide zu kaufen, muss er lachen. Offenbar weiß er selbst, dass ein gewisser Irrsinn nur entsteht, wenn man ihn sich leisten kann.
Und dann, gleich im ersten Jahr, fallen hundert Hektar Wald einem Brand zum Opfer. Findel, der Autodidakt, der anstelle der ortstypischen Kiefern aus Überzeugung Buchen und Eichen pflanzt, sperrt sich gegen herkömmliche Methoden der Wiederaufforstung. „Jetzt will ich nicht zu detailliert werden“, sagt er einleitend, um dann knapp, aber sehr kenntnisreich und verständlich zu erklären, wie ein neuer Wald nach der Logik der Natur entsteht, und nicht, wie sonst üblich, den Prinzipien des Ackerbaus folgend. Die Universität Göttingen begleitet sein Experiment. Findel sagt, heute sei das von ihm erprobte Verfahren in vergleichbaren Fällen Standard. Er wirkt stolz.
Plötzlich kann man sich vorstellen, wie überlegt und engagiert dieser unscheinbare Mann die Bildungsarbeit begleitet, in die er heute sein Geld, aber auch das Gros seiner Zeit steckt. Seit er in Madagaskar gelernt hat, dass eigene Entwicklungsprojekte unverhältnismäßig viel Verwaltungskosten produzieren, verlässt er sich auf Unicef. Aber die Projekte, die das Kinderhilfswerk mit Findels Geld in Afghanistan, Bangladesch, Nepal, Liberia und Madagaskar aufgezogen hat, damit die am stärksten benachteiligten Kinder in den entlegensten Regionen der ärmsten Länder lesen, schreiben und rechnen lernen, haben Pioniercharakter. Es geht um nichts weniger als den Nachweis, dass es sich lohnt, auch in jene schwer erreichbaren Kinder zu investieren, die sonst durch das Raster der Entwicklungshilfe fallen. Der Mann, der seine Privilegien stets als unfair empfunden hat und bis heute strikt unterscheidet zwischen seiner Leistung - der Fotografie, dem Wald - und dem Geld, das er nicht selbst erarbeitet hat, kümmert sich um Kinder, die am anderen Ende des Spektrums groß werden. Nicht zufällig heißt seine Initiative „Reaching the hardest to reach“.
Handeln Sie aus schlechtem Gewissen?
Nein. Ich kann ja nichts dafür, wie ich geboren wurde. Aber ich hoffe, dass ich noch so lange lebe, dass ich 99 Prozent meines Vermögens für philantropische Zwecke noch selbst ausgeben kann.
Das ist das Ziel?
Ja. Was soll ich sonst damit machen? Wer soll’s erben? Die anderen Familienmitglieder brauchen es nicht, und da wir keine Kinder haben . . .
Ist es leichter, so viel zu geben, wenn man keine hat?
Ja klar, das glaube ich schon.
Ziehen Sie einen persönlichen Nutzen aus dem Spenden?
Eine riesige Freude und Genugtuung, das Geld für etwas wirklich Sinnvolles auszugeben. Aus tiefster Überzeugung.
Seiner Frau zuliebe, einer Innenarchitektin, die in einem südkoreanischen Waisenhaus aufwuchs, bis sie mit zwölf Jahren von amerikanischen Eltern adoptiert wurde, lebt Stefan Findel seit fünf Jahren wieder in den Staaten. Ihn selbst hatte die Einöde seines Waldes glücklich gemacht. Inzwischen ist der Hof verkauft. So ein riesiges Anwesen, ohne dort zu wohnen, sagt Findel - das wäre zu viel Luxus gewesen.
Welchen Luxus gönnen Sie sich?
Ich habe mir gerade eine doppeläugige Rolleiflex gekauft, ich leiste mir ein neues Fahrrad, wenn ich eines brauche. Und meine Frau fliegt dieses Jahr in alle Länder, wo wir Projekte haben. Ich bin in Afghanistan und Liberia dabei und will außerdem nach Nordkorea. Das ist ein Luxus. Wir fliegen übrigens zur Überraschung aller Leute immer Economy und nicht Business Class. Gerade auf den weiten Strecken wird das sonst so teuer, dass wir sagen, das machen wir nicht. Wir bezahlen das auch privat. Wir haben noch nie auch nur einen Cent aus unseren Stiftungen rausgenommen für solche Zwecke. Das gehört sich nicht.
Und wann genehmigen Sie sich einen Jägermeister?
Es gibt keine festen Gelegenheiten, im Gegenteil, ab und an bleibe ich auch von allem Alkohol fern. Aber es ist schon was Besonderes, weil die familiäre Verbindung da ist. Ich kann mich noch an meinen Großvater erinnern, ein sehr lieber, gutmütiger Großvater, wir sind gut miteinander ausgekommen. Als kleiner Junge bin ich manchmal mitgegangen, wenn er den Alkohol verköstigt hat.
Ein Gläschen Likör, und schon kommen die Erinnerungen?
Vor allem, weil das Produkt heute noch genauso hergestellt wird wie früher.
Da klingt Stolz mit durch.
Ja.
Und was würde Sie stolz und froh machen, wenn es um Ihre Projekte geht?
Super wäre, wenn man tatsächlich mal eines Tages junge Menschen trifft, die sagen: Wegen eurer Initiative haben wir diese Ausbildung, und deshalb ist unser Leben ein viel besseres geworden.
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