Dienstag, 23. April 2013

+++ANTONIO MARZI, oder der Spion, der sich selbst überlistete+++



Als Widerstandskämpfer spionierte Antonio Marzi im Zweiten Weltkrieg die Deutschen aus. Seine verschlüsselten Funksprüche sammelte der Italiener in einem Tagebuch - und vergaß die Codierung. Jetzt hat ein deutscher Experte das Rätsel gelöst. 

Gerade einmal 17 Jahre alt war Antonio Marzi, als er 1944 in den Krieg geschickt wurde. Mit dem Fallschirm über Udine abgesetzt, kämpfte er als Partisan gegen die Deutschen, die die nordostitalienische Stadt zu dieser Zeit verwalteten. Seinen Unterschlupf fand er bei einer Sympathisantin, deren Bruder ebenfalls Partisanenkämpfer war. Kriegswichtige Beobachtungen hielt Marzi in einem Tagebuch fest, dessen Einträge er jeweils per Funk an eine Kontaktperson übermittelte. Er war also nicht nur Partisan, sondern auch Spion. 

Zum Schutz vor feindlichen Lauschern verschlüsselte Marzi seine Funksprüche. Doch entgegen den üblichen Vorsichtsmaßnahmen vernichtete er seine Aufzeichnungen nicht, sondern bewahrte sie über das Kriegsende hinaus auf. So entstand ein über 200 Seiten starkes Kriegstagebuch mit etwa hundert Einträgen aus den Jahren 1944 und 1945. Es hätte ein interessantes Zeitdokument sein können. Doch es gab ein Problem: Niemand konnte es lesen. Auch Marzi nicht. 

Nach dem Krieg wollte es ihm einfach nicht mehr gelingen, sein eigenes Tagebuch zu entschlüsseln. Zwar erinnerte er sich noch an das Verschlüsselungsverfahren und an das Gedicht "Un giovinetto pallido e bello", aus dem er seine Schlüsselwörter gewählt hatte. Doch wenn er es damit versuchte, kam kein sinnvoller Text heraus. 2003 bat Marzi daher den italienischen Verschlüsselungsexperten Filippo Sinagra um Unterstützung. Helfen konnte dieser ihm nicht. Immerhin aber trug er alle für den Code relevanten Details zusammen. 

"Wir waren elektrisiert" 

2011 erschienen diese Informationen zusammen mit Marzis Tagebuch auf MysteryTwister C3 [www.mysterytwisterc3.org], einer Website für kryptologische Knobeleien. Doch obwohl sich dort zahlreiche fähige Dechiffrier-Experten tummelten, bissen sie sich zwei Jahre lang an Marzis Aufzeichnungen die Zähne aus - bis zum 23. Februar 2013. Da behauptete der Freiburger Hobby-Codeknacker Armin Krauß, die Lösung gefunden zu haben. 

Und er hatte sie. "Wir waren sofort elektrisiert", berichtet Professor Bernhard Esslinger, der Leiter von MysteryTwister C3. "Unsere Tests zeigten, dass die Lösung stimmte. Ein faszinierendes Dokument der Zeitgeschichte war nach 70 Jahren wieder lesbar." 

Krauß ist in der Szene kein Unbekannter. Der 44-jährige Diplom-Informatiker und Software-Entwickler kam mit der Verschlüsselungstechnik erstmals im Studium in Berührung. Erst vor einigen Jahren begann er, ein Hobby daraus zu machen. Bei MysteryTwister C3 knackte er unter anderem eine Verschlüsselung des Ku Klux Klan aus den zwanziger Jahren und fand eine in einem Bild versteckte Nachricht aus dem 16. Jahrhundert. Schon bald hatte Krauß für seine Dechiffrierungen so viele Punkte eingefahren, dass er die "Hall of Fame" von MysteryTwister C3 anführte. Auf jener Website war er auch auf das Tagebuch von Antonio Marzi gestoßen. 

Details und Tücken 

Krauß hatte zunächst die Details studiert und versucht, die Gedankengänge des Partisans nachzuvollziehen. Dann schrieb er ein Computerprogramm, das eine sogenannte Doppelwürfel-Verschlüsselung, um die es sich nach Marzis Angaben handelte, mit Hilfe von Schlüsselwörtern rückgängig machte. Er probierte die Wörter, die in dem von Marzi angegebenen Gedicht vorkamen. "Ich prüfte alle Kombinationen von einem bis fünf Gedichtwörtern, das waren etwa 2,6 Millionen Versuche", erklärt Krauß, "doch in allen Fällen spuckte der Computer nur Kauderwelsch aus." 

Dem Codeknacker fiel auf, dass Marzi das Wort "Giovanetto" aufgeschrieben hatte, während die korrekte Version des Gedichts "Giovinetto" enthielt. Beim Doppelwürfel-Verfahren aber kann schon ein einziger falscher Buchstabe die korrekte Entschlüsselung verhindern. Doch auch nach entsprechender Korrektur habe der Computer kein brauchbares Ergebnis gemeldet, so Krauß. Um jeglichen Schreibfehler auszuschließen, habe er sogar der Reihe nach alle Buchstaben ausgetauscht - es waren Tausende weiterer Möglichkeiten, doch keine brachte den Erfolg. 

Auf die richtige Spur führte ihn schließlich die Überlegung, dass der Fünf-Buchstaben-Block am Anfang jedes Eintrags gar nicht zur verschlüsselten Nachricht gehörte. Vielleicht handelte es sich stattdessen um einen Hinweis, welches Wort aus dem Gedicht als Schlüsselwort zu verwenden war. So kam Krauß auf die Idee, den ersten Block bei der Entschlüsselung wegzulassen. Doch auch jetzt blieb der Erfolg aus. Als Krauß dann noch den letzten Block eines Eintrags wegließ, gab der Computer plötzlich sinnvolle Wörter aus. "Das Erste, was ich erkannte, waren die Worte 'Situazione locale tranquilla'", berichtet Krauß. "Bingo!" 

Mit der ermittelten Methode konnte Krauß schließlich das gesamte Tagebuch entschlüsseln. Allerdings: Die Aufzeichnungen waren dennoch nicht einfach zu lesen. Marzi hatte im Telegrammstil geschrieben - mit knappen Formulierungen, vielen Abkürzungen und ohne Wortzwischenräume. Beim Verschlüsseln waren ihm zudem Fehler unterlaufen. 

Immerhin: Die meisten Einträge lassen sich entziffern. Wie etwa der folgende Abschnitt, der aus der Anfangszeit von Marzis Partisanenkampf stammt. Dort heißt es: 

Der örtliche Präfekt ist verschwunden. Einige Elemente der Polizei sind nicht verfügbar. Die Deutschen entwaffnen die Polizei und die Miliz. Öffentliche Büros sind geschlossen, und die Stadtaktivität ist gestoppt. 

Auf seine eigene Lage geht Marzi in seinen Einträgen kaum ein. Funksprüche, die auf seinen Aufenthaltsort, etwaige Mitkämpfer oder seine Arbeitsweise schließen ließen, vermied er, um sich nicht zu verraten. Nur selten schimmert in seinen Notizen etwas Persönliches durch, wie etwa dieser Satz: 

Ich bitte euch, wenn möglich, meine Familie zu beruhigen. 

Datiert sind die Tagebucheinträge nach bisherigem Kenntnisstand nicht. Möglicherweise war es die Aufgabe der Empfänger des jeweiligen Funkspruchs, das Datum festzuhalten. Es kann aber auch sein, dass sich die Zeitangabe jeweils im Fünf-Buchstaben-Block am Anfang eines Eintrags verbirgt, für den Marzi einen anderen Code verwendete. Entsprechende Untersuchungen laufen noch. Vielleicht lässt sich dann auch feststellen, wann genau Marzi den folgenden Eintrag schrieb, der sich auf den letzten Seiten des Tagebuchs findet und schätzungsweise die Situation von April 1945 beschreibt: 

Die Deutschen sind sehr deprimiert. Sie halten sich zurück, sind aber immer noch kämpferisch und gehorchen den Befehlen. Die Stadt Udine verfügt über einen Vorrat von Lebensmitteln für 15 Tage. Die Situation ist unverändert. Kleine Zusammenstöße in den Vororten. Das Kraftwerk ist noch nicht aktiviert. 

Aus dem Eintrag ist herauszulesen, dass sich der Krieg bereits dem Ende zuneigte. In dieser Zeit scheiterten Verhandlungen zwischen Mussolini und den Partisanen, woraufhin Mussolini die Flucht ergriff. Er wurde jedoch an der Grenze zur Schweiz gefangen genommen und erschossen. Vermutlich in diesen Tagen enden die Tagebuchaufzeichnungen. Einer der letzten Einträge lautet: 

Heute gab es eine Demonstration gegenüber den britischen Truppen, um die Befreiung zu feiern. Große Begeisterung. […] Ab morgen beginnt die Stadt, wieder normal zu leben. 

Marzi kehrte nun wieder in sein ziviles Leben zurück, heiratete und wurde Vater zweier Kinder. Sieben Jahrzehnte später gelangte der Inhalt seines Tagebuchs an die Öffentlichkeit - zu spät für Marzi. Der Italiener war 2007 gestorben. 

Noch mehr Geheimnisse 

Partisan Marzi war übrigens nicht die einzige Person, die der Nachwelt ein verschlüsseltes Tagebuch hinterließ. Bekannte Autoren von zumindest in Teilen codierten Tagebüchern waren der britische Beamte und Politiker Samuel Pepys (1633-1703), der tschechische Dichter Karel Hynek Mácha (1810-1836) und die britische Kinderbuchautorin Beatrix Potter (1866-1943). 

In den meisten Fällen allerdings hatten Code-Experten nur wenig Mühe, den Inhalt zu dechiffrieren. Mit einer Ausnahme: Im ansonsten unverschlüsselten Tagebuch von Gwendolen of Salisbury (1860-1945), der Tochter des britischen Premier-Ministers Robert of Salisbury, ist von einer Person die Rede, die als "465113, 49359" bezeichnet wird. 

Die besagte Person teilte Gwendolens Vater etwas Wichtiges mit, worauf dieser laut Tagebucheintrag wie folgt reagierte: "S[alisbury] konnte das kaum glauben und war noch mehr schockiert, als ihm klar wurde, dass 535611 58955." Der Eintrag schließt mit den Worten: "S[alisbury] denkt 48355 36946 unfähig 497316 424219 & 47651 – 539620." Bis heute ist nicht bekannt, was diese verschlüsselten Wörter bedeuten. 



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