Otto Beisheim brachte sich um, Gunter Sachs, Eberhard von Brauchitsch - das sind nur die prominenten Beispiele. Suizid im Alter ist ein großes, verdrängtes Problem. Dabei wäre vielen zu helfen.
Am letzten Morgen seines Lebens wirkt er fröhlich und gelöst. Klaus B. trägt zum ersten Mal sein neues, orangefarbenes T-Shirt und die kurze Hose. Es ist ein heißer Tag im Juli 2005. Der 65-Jährige deckt in Ruhe den Frühstückstisch für seine Frau, seit er im Ruhestand ist, hat er viel Zeit. Er sagt ihr, er wolle kurz etwas einkaufen gehen. Dann läuft er zum Friedhof und gießt die Blumen am Grab seiner Mutter. Die Bahnstrecke liegt nur ein paar Schritte entfernt. Er geht hoch zu den Gleisen und kniet sich hin. Um 11.15 Uhr überrollt ihn der Zug.
Mehr als 10.000 Menschen nahmen sich in Deutschland 2011 das Leben. Eine Altersgruppe fällt in den Zahlenkolonnen des Bundesamtes für Statistik besonders auf: Menschen über 60 Jahre - ihr Anteil an den Suiziden liegt bei 40 Prozent. Und selbst diese Zahl täuscht noch über die Not hinweg. Denn es gibt Fälle, die in keiner Statistik auftauchen: Ältere, die sich weigern, weiter lebenswichtige Medikamente zu nehmen, die einfach aufhören zu essen und zu trinken. Auch die Zahl der gescheiterten Suizidversuche von alten Menschen wird nicht erfasst. Eine Studie der WHO zeigt: Je älter Menschen werden, desto höher ist das Risiko, dass sie sich töten.
Die Angst des Gunter Sachs
Alterssuizid ist eine Tragödie, die von der Gesellschaft weitgehend verdrängt wird. Weil sie von schweren Krankheiten, Einsamkeit und Verfall erzählt. Von der Angst, anderen zur Last zu fallen und der Angst, seine Würde zu verlieren. Von Leiden, die im Alter jeden treffen können. Die Suizidzahlen bei älteren Menschen sind seit 2008 um zehn Prozent gestiegen - eine schlüssige Erklärung dafür haben Experten aber nicht, weil jeder Fall höchst unterschiedliche Ursachen hat.
Im vergangenen Februar erschießt sich der 89-jährige Milliardär Otto Beisheim in seinem Haus am Tegernsee. Manche Medien bezeichnen die Tat als "Freitod". Ein Wort, das tröstlicher, unbeschwerter klingt als "Selbstmord". "Es ist problematisch, dass Menschen von der Gesellschaft viel Verständnis entgegengebracht wird, wenn sie ihre "Misere des Alterns" selbst beenden. Weil das häufig suggeriert, dass diesen Menschen nicht mehr geholfen werden kann", sagt Norbert Erlemeier stern.de, er ist emeritierter Professor für Psychologie in Münster. Neben körperlichen Krankheiten sind Depressionen eine der Hauptursachen von Suiziden im Alter. Otto Beisheim litt an schweren Depressionen. Genau wie der Kunstsammler und Fotograf Gunter Sachs, er erschoss sich im Mai 2011, aus Angst, an Alzheimer erkrankt zu sein.
Das Verbergen innerer Qualen
Zu einem Arzt ist Sachs nicht gegangen. "Ältere Männer tun sich oft besonders schwer, Hilfe anzunehmen, sie haben gelernt, ihre Probleme mit sich selbst auszumachen", sagt Erlemeier. Die Angst vor dem Pflegeheim. Traumatische Kriegserlebnisse. Streit mit Kindern und Enkeln. Der Tod des Partners. Je älter Menschen werden, desto mehr Verluste müssen sie verkraften. Sie verbergen ihre inneren Qualen. Die Frage ist: Wie frei ist ein psychisch Kranker bei der Entscheidung, sein Leben zu beenden?
Auch Klaus B. kann sich nur schwer öffnen. Früher hat er als Bauingenieur bei der Deutschen Bahn in Kaiserslautern gearbeitet. 1988 stürzt die Stützmauer eines nahegelegenen Tunnels ein, ein Zug entgleist und prallt auf einen anderen. Dabei stirbt eine junge Studentin. Klaus B. macht sich Vorwürfe und er wird von seinen Kollegen gemobbt, auch wenn ein Gericht später feststellt, dass er keine Schuld am Tod der Frau trägt. Er stürzt in tiefe Depressionen. Mehr als 15 Jahre kämpft er gegen die Krankheit an, seine Familie versucht alles, um ihn aufzufangen. Aber dann verlässt Klaus B. der Mut.
In den Wochen vor seinem Suizid räumt er das Haus auf, er sortiert seine Unterlagen, wirft vieles weg. "Wir hatten den Eindruck, dass es ihm endlich wieder besser ging. Dabei hatte er seinen Entschluss zu diesem Zeitpunkt schon längst gefasst. Wir sollten ihm nichts anmerken", sagt seine Tochter Ulrike B. heute.
Keine Rettung erwünscht
Ein typisches Verhalten. Der Soziologe Peter Klostermann von der Berliner Charité untersuchte 2004 für eine Studie 172 Suizide von über 60-Jährigen. Er sprach mit Hinterbliebenen, sah sich Tatortfotos an, las Obduktionsberichte und Abschiedsbriefe. Klostermann kam zu dem Ergebnis: Im Vergleich zu jüngeren Suizidenten planen ältere Menschen ihr Ableben länger voraus und sie sind entschlossener, sich zu töten. Haben sie sich entschieden, wollen sie nicht mehr gerettet werden.
Klaus B. wollte sein Leben ordnen, bevor er es mit 65 Jahren beendete, sein Tod aber hinterlässt in seiner Familie ein Chaos. Seine Frau bricht zusammen, sein Sohn ist wütend und wirft der Mutter vor, Signale des Vaters übersehen zu haben. Seine andere Tochter kapselt sich ab. Und Nachbarn tratschen, die Familie habe Klaus B. im Stich gelassen. "Bei Angehörigen löst ein Suizid fast immer eine schwere Lebenskrise aus", sagt Elisabeth Brockmann von Agus, einer Selbsthilfegruppe für Hinterbliebene von Menschen, die sich das Leben genommen haben. "Gleichzeitig fällen Außenstehende oft ein einfaches Urteil über die Gründe des Suizids. "In dieser Familie kann es ja nicht gestimmt haben", heißt es dann oft. Das stigmatisiert die Hinterbliebenen." Seiner Frau und seinen Kindern hinterlässt Klaus B. keinen Abschiedsbrief.
Die Gotland-Studie
Was aber kann man tun, um ältere Menschen davor zu bewahren, sich selbst zu töten? Krankenschwestern, Pfleger und besonders Hausärzte haben oft keine Zeit, sich intensiv auf die Nöte ihrer älteren Patienten einlassen zu können. Aber gerade sie spielen bei der Suizidprävention alter Menschen eine große Rolle, weil sie oft deren wichtigste Bezugspersonen außerhalb der Familie sind. Die sogenannte Gotlandstudie aus den achtziger Jahren ergab, dass speziell geschulte Hausärzte in der Lage sind, Suizidgedanken bei ihren Patienten zu erkennen und ihnen dann zu helfen. Auf diese Weise sank die Rate der Selbsttötungen auf der schwedischen Insel binnen drei Jahren um etwa zwei Drittel. Älteren Menschen müssten aktiv Gesprächsangebote gemacht werden, um das Eis zu brechen und sie zu entlasten, sagt Norbert Erlemeier. "Wir können Menschen nicht versprechen, sie von ihren Leiden im Alter zu befreien. Aber ihnen anzubieten, sie in ihrer Not zu begleiten, würde viele schon enorm erleichtern."
Ulrike B. sagt, sie glaube nicht, dass ihr Vater hätte gerettet werden können. Aber dass vielen anderen Älteren sehr wohl geholfen werden könne. Sie ist Psychologin und arbeitet heute selbst mit Depressionskranken. "Wenn wir sagen: So läuft es eben am Ende des Lebens und daran ist nichts zu ändern, dann geben wir alten wie jungen Menschen ein gefährliches Signal", sagt Ulrike B.. "Man muss die Menschen stattdessen schon früh darauf vorbereiten, wie sie später ein würdevolles Leben führen können. Wie sie sich Hoffnung bewahren können, gerade falls sie krank werden oder ihr Partner stirbt."
Koffer voller Notizbücher
Im Haus von Klaus B. steht ein Koffer, vollgestopft mit seinen Notizbüchern. Seine Tochter Ulrike hofft, darin vielleicht doch noch einen Blick in die Seele ihres Vaters zu bekommen. Eine letzte Erklärung zu finden, abzuschließen, irgendwann. Noch traut sie sich nicht, ihn zu öffnen.
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