Sonntag, 10. März 2013

+++BÖRSENGANG EINES NOTIZBUCHES, oder "Moleskines" Millionen-Legende+++


Moleskine-Logo auf Notizbuch: 1998 gab die Mailänder Firma die ersten paar tausend Exemplare in China in Auftrag - 15 Jahre später strebt Moleskine an die Börse. 600 bis 700 Millionen Euro soll das Unternehmen inzwischen wert sein.


Inzwischen verfügt Moleskine über ein umfangreiches Sortiment - über Notizbücher und Kalender bis hin zu Lesebrillen und Taschen. 2012 eröffneten in Italien eigene Marken-Stores (im Bild: Flughafen Mailand); weitere sollen weltweit bald folgen.


Mittlerweile hat sich die Legende in gewissem Sinne bewahrheitet. Viele Künstler outen sich als Moleskine-Liebhaber - und die Firma pflegt deren Zuneigung zum gegenseitigen Vorteil: Sie präsentiert ihre Skizzenbücher in eigenen Ausstellungen.


Moleskine-Produktmanagerin Maria Sebregondi: Die Soziologin erfand quasi das "Moleskine" - der Ausgangspunkt war aufmerksame Lektüre.


Hemingway, van Gogh, Picasso: Geschickt verknüpft die Firma Moleskine Namen verstorbener Künstler mit ihren hochpreisigen Notizbüchern. Jetzt gehen die Mailänder an die Börse. Der Wert des Unternehmens wird auf 600 Millionen Euro geschätzt.

Wenn es noch eines Beweises für die Wirkung der Moleskine-Legende bedurft hätte, lieferte ihn die "Financial Times": "Ernest Hemingway soll Moleskine verwendet haben", schrieb die als faktensicher geltende britische Tageszeitung vor wenigen Tagen unter der Abbildung eines jener Notizbücher mit dem charakteristischen Gummiband und dem stolzen Preis. Nur: Wie sollte der 1962 verstorbene US-Schriftsteller ein Produkt benutzt haben, das erst 1998 auf den Markt kam? Auch Pablo Picasso und Vincent van Gogh kritzelten ihre Skizzen mit Sicherheit nicht in einen Moleskine-Block.

Derartiges würde nicht einmal Moleskine selbst behaupten - doch der Fauxpas der britischen Journalisten dürfte exakt in das Kalkül passen. Denn die Firma wirbt durchaus offensiv mit den Namen jener Künstler, etwa in den Broschüren, die jeder Kladde beiliegen. Der rhetorische Kunstgriff: Moleskine sei lediglich "das Erbe" der von Hemingway und Co. angeblich so innig geliebten Notizbücher. Die Botschaft ist klar. Moleskine steht für Kreativität, Tradition und Weltläufigkeit. Mit Erfolg - Moleskine verkaufte im vergangenen Jahr weit mehr als 14 Millionen Notizbücher in mehr als 90 Ländern. Und das, obwohl ein Din-A5-Exemplar in Deutschland nicht unter 15 Euro zu haben ist.
Jetzt strebt das Unternehmen sogar an die Mailänder Börse. Die Gespräche mit Investoren haben diese Woche begonnen und sollen Insidern zufolge bis Ende März dauern. Auf mindestens 600 Millionen Euro taxieren Experten den Wert der Firma mit zuletzt 78 Millionen Euro Jahresumsatz. Etwa die Hälfte der Anteile will der französische Finanzinvestor Syntegra, der seit 2006 die Mehrheit an Moleskine hält, aufs Parkett bringen.

Angefangen hat alles mit aufmerksamer Lektüre: Maria Sebregondi, Soziologin und Marketingberaterin, liest Mitte der neunziger Jahre "Traumpfade" von Bruce Chatwin. Darin erzählt der britische Autor von einer Schreibwarenhandlung in Paris, in der sein Protagonist sich stets mit jenen Notizbüchern eindeckt, die in dem Roman wohl zum ersten Mal als "Moleskines" bezeichnet und über mehrere Seiten beschrieben werden. Sebregondi ist beeindruckt.

Es trifft sich gut, dass die Italienerin gerade für den befreundeten Inhaber der Mailänder Handelsfirma Modo & Modo eine Produktidee sucht. Sie fährt nach Paris - und erlebt eine Enttäuschung: Vom Schreibwarenladen existiert keine Spur, nicht einmal ein Hinweis darauf, dass es jemals Notizbücher gab, die von den Franzosen "Moleskines" genannt wurden.

Stars werden zu Fans - und machen die Legende wahr

Doch Sebregondi versteht schnell, dass das keine Rolle spielt. Entscheidend war die Sehnsucht, die Weltenbummler Chatwin in ihr ausgelöst hatte - und die Legende, die er erfand. Und nebenbei benutzten Künstler wie Sartre und Picasso tatsächlich gern schwarze, kleine Notizbücher französischer Machart. Sebregondi kauft ein Exemplar in einem Pariser Antiquariat, verändert Details und schickt es als Muster für den ersten kleinen Auftrag über einige tausend Exemplare nach China.

Im Laufe der Jahre entsteht eine regelrechte Fangemeinde um das Notizbuch. Stars wie Brad Pitt lassen sich mit der Kladde ablichten; Star-Schriftsteller David Mitchell ("Cloud Atlas") berichtete jüngst in "Independent" und "Stern", er habe bei seinen Recherchen "ein ganzes Moleskine vollgeschrieben". Das sorgsam gehütete Image reproduziert sich so nicht nur - es erhält zudem eine reale Fundierung, sozusagen nachträgliche Berechtigung.

Experten loben die Positionierung: "Moleskine ist ein analoger Begleiter - und erzählt eine traditionell behaftete Geschichte", sagt Thomas Kirschmeier vom Marktforschungsinstitut Rheingold. In einer zunehmend digital aufgerüsteten Welt lebten die schwarzen Kladden gerade vom Gegensatz zu Smartphone und Tablet.
Gefährlich werden könnte es für die Marke daher dann, wenn dieses Image im Zuge der Diversifikation verwässert würde - also die falschen Produkte unter dem Namen Moleskine auf den Markt kämen, avantgardistische Technikspielereien. Bislang hat Moleskine diesen Fehler nicht begangen. Zwar gibt es inzwischen mehr als 500 verschiedene Artikel, doch ob Lesebrille oder Aktentasche: Alle haben einen Bezug zum ursprünglichen Notizbuch.

So stabil sei die Marke inzwischen, sagt Rheingold-Mann Kirschmeier, dass ihr auch der massive Erfolg kaum schaden könne. Zwar griffen Trendsetter inzwischen oft zu anderen Notizbüchern, um sich von der Masse abzuheben. Doch das sei für Moleskine ähnlich gut zu verkraften wie für Apple die große Verbreitung seines iPhone. "Das hatten zu Beginn nur absolute In-Menschen. Mittlerweile besitzen es auch die Ghetto-Kids."


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