Samstag, 26. Januar 2013

+++Das Geheimnis der Rentiernase+++



Temperaturunterschiede von bis zu 80 Grad? Für Rentiere kein Problem. Sie sind Spezialisten für extreme Bedingungen, je nach Bedarf ist ihre Nase Heizung oder Kühlung. Nun wollen auch Ingenieure die Technik nutzen. Besuch in einem Forschungslabor jenseits des Polarkreises.

Ironisch ist die Sache schon. Da befasst man sich tagein, tagaus mit den wundersamen Leistungen der Nase - und muss sich mit einem Schnupfen herumplagen. Aber da lässt sich nun nichts machen. Und so klingt Lars Folkow einigermaßen nasal, wenn er über seine Arbeit berichtet.

Der hagere Biologe im grauen Strickpullover sitzt in seinem Büro am Rand der norwegischen Stadt Tromsø. Es ist früher Nachmittag. Und weil auf fast 70 Grad Nord die Tage Mitte Januar sehr kurz sind, verschwindet gerade das letzte Tageslicht vor den Fenstern. Folkows Untersuchungsobjekte haben wir zuvor im weitläufigen Außengehege des Instituts für Arktische Biologie besucht, unweit der Skisprungschanze der Stadt: Hinter einem vielleicht vier Meter hohen Maschendrahtzaun hatten acht Rentierdamen und ein Bulle interessiert ins schwindende Licht geblinzelt.
Die Szenerie war ausgesprochen winterlich, noch kurz zuvor hatte ein Schneesturm gewütet. Doch selbst die widrigsten Bedingungen der Polarregion können den Tieren nichts anhaben, deshalb sind die Paarhufer für die Forscher interessant. Temperaturunterschiede von bis zu 80 Grad machen den Rentieren nichts aus - auch weil sie eine ganz spezielle Nase haben.

"Sie verwandeln ihre Nase vom Heizer zum Kühler"

Rund um den Pol nutzen Menschen schon seit Tausenden von Jahren das Rentier. Zur Zeit des römischen Reichs zogen die Tiere vermutlich sogar in Norddeutschland ihre Bahnen. Doch auch für die Zukunft könnten Rentiere interessant sein: Womöglich können sie Ingenieuren bei der Konstruktion von neuen Wärme- und Abgassystemen helfen. Zusammen mit Kollegen der Universität Trondheim hat Folkow dazu vor wenigen Tagen ein Projekt gestartet. Es soll die Geheimnisse der Rentiernase entschlüsseln und für praktische Anwendungen nutzbar machen.

Mit Computermodellen wollen die Wissenschaftler den Luft- und Blutfluss in den Riechorganen simulieren. Die Daten dafür soll die Herde von Tromsø liefern. Klar ist bereits: Das Riechorgan der Rentiere funktioniert gleich doppelt als Wärmetauscher: Selbst bei beißender Kälte heizt es die Atemluft in kürzester Zeit auf die Körpertemperatur von 38 Grad auf. Beim Ausatmen wird die Luft dagegen auf bis zu fünf Grad heruntergekühlt - um die Wärme im Körper zu halten.

Bei der mühseligen Suche nach Futter unter dem Schnee ist diese Funktion äußerst praktisch. Doch was ist, wenn das Tier mit seinem dicken Fell mal einen Sprint einlegen muss? Zum Beispiel, weil sich ein hungriger Wolf nähert? Bei solch schweren körperlichen Belastungen müssen die Tiere in kurzer Zeit große Mengen Wärme loswerden. Und auch hier hilft die Nase - indem sie besonders effektiv Energie abgibt.

"Selbst bei Raumtemperatur überhitzt ein Rentier nicht", sagt Folkow. Die Nase ist, so glauben er und seine Kollegen, gar an ein Thermostat zur Regelung der Gehirntemperatur angeschlossen. Erst wenn es gar nicht mehr anders geht, hecheln die Tiere auch mit offenem Mund, bis zu 300 Mal in der Minute. "Das ist ein ziemlich praktischer Trick, den die Tiere da beherrschen", sagt Lars Folkow. "Sie verwandeln ihre Nase vom Heizer zum Kühler."

Rentierschädel im Tomografen

Natürlich gibt es auch bei anderen Arten ähnliche Techniken der Wärmeregulierung, bei Schafen oder Hunden zum Beispiel. Und auch bei uns Menschen hilft die Nase beim Wärmen und Befeuchten der Atemluft. Doch wegen der extremen Lebensbedingungen muss die Rentiernase die Temperaturkontrolle im Vergleich zu anderen Arten eben besonders effizient bewältigen, sagt Folkow.

Welche Konstruktionsmerkmale machen das möglich? Da ist zum Beispiel die besonders hohe Dichte von Blutgefäßen. Kurz vor Weihnachten hatten die Forscher aus Tromsø zusammen mit Kollegen im "British Medical Journal" darüber berichtet. Das Team musste seine Ergebnisse humorvoll verpacken, um sie an den Mann zu bekommen ("Warum Rudolf das Rentier eine rote Nase hat"). Folkow scheint darüber nur eingeschränkt glücklich. Doch an der entscheidenden Botschaft des Artikels gibt es nichts zu deuteln. Sie lautete: Die Dichte der Blutgefäße in der Rentiernase liegt 25 Prozent höher als bei uns Menschen.

Und auch die Geometrie ist interessant, wie weitere Untersuchungen zeigten. Um das zu belegen, holt Folkow ein Bild auf den Schirm seines Computers. Es ist eine Computertomographie vom Schädel eines toten Rentiers. In ihrem neuen Projekt wollen die Forscher aber auch lebende Tiere auf diese Weise untersuchen. Die Aufnahme zeigt vergleichsweise große Strukturen in der Nase, die beinahe wie Rohrleitungen aussehen. Durch eine geschickte Führung des Luftstroms helfen sie dabei, die Oberfläche für den Wärmeaustausch extrem zu vergrößern.
Nach seinem letzten Fachartikel hätten ihn unter anderem Ingenieure aus Deutschland angerufen, die sich mit dem Design von Auspuffrohren befassen. Auch eine Medizintechnikfirma, die Ausrüstung für die endotracheale Beatmung von Krankenhauspatienten herstellt, habe sich gemeldet. Das Interesse an der Rentiernase ist also groß - mit gutem Grund: Auf einer Schleimhaut-Fläche von rund einem Quadratmeter wird die einströmende Luft gewärmt und befeuchtet, die ausströmende Luft dagegen getrocknet und gekühlt.

Menschen haben dafür gerade einmal ein Zehntel der Fläche zur Verfügung, verlieren beim Ausatmen viel Energie und haben bei großen Anstrengungen Probleme. Daher ist das Fazit des verschnupften Forschers auch nur folgerichtig: "Wir haben eine ziemlich primitive Nase."

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