Sonntag, 9. Dezember 2012

+++ZWANGSARBEIT in der DDR-JUSTIZ+++



Weit mehr Westfirmen als Ikea verdienten an dem System der Zwangsarbeit in der DDR. Zeitzeugen über zerschundene Rücken für Luxusfernseher, passiven Widerstand beim Kamerabau und erklären, wer die größten Profiteure der Ausbeutung waren.

Da war dieses kleine Loch in der Fabrikmauer, die einzige Verbindung zwischen zwei gegensätzlichen Welten. Recht und Unrecht, bezahlte Arbeit und Ausbeutung, das alles auf engstem Raum, in einer Fabrikhalle, getrennt nur durch diese Mauer mit dem Loch.

Fernseher fuhren im Minutentakt auf einem Fließband durch diese Öffnung. Auf der einen Seite montierten Männer die Geräte zusammen, hängten schwere Bildröhren ein, löteten Lautsprecher an. Wachmänner mit Knüppeln kontrollierten sie, denn die Männer waren Häftlinge - Zwangsarbeiter der DDR. Dann kamen die Fernseher per Fließband auf die andere Seite der Fabrikhalle. Dort standen die regulär entlohnten Techniker des VEB Fernsehgerätewerks Staßfurt bei Magdeburg bereit, um die Endmontage zu verrichten.

"So zeigte der Sozialismus sein wahres Gesicht", sagt Andreas P. 35 Jahre ist es nun her, dass er als Zwangarbeiter in Staßfurt schuften musste, weil er als 19-Jähriger bei einer verbotenen Demo gegen den verhassten Staat erwischt worden war. Es waren zwölf Monate, die sein Leben veränderten: die erste Beziehung, die die Haft nicht überstand; der Rücken, der danach so kaputt war, dass Andreas P. heute Schmerzpatient ist; die Dunkelhaft, die er nicht vergessen kann. Über den Lohn für dieses Jahr Akkordarbeit kann er nur lachen: insgesamt 350 Ostmark.

Der Fall Neckermann 

Dass DDR-Zwangsarbeiter für Ikea jahrelang Möbelelemente herstellten, ist schon länger bekannt. Kürzlich hat das schwedische Unternehmen erneut für Aufregung gesorgt, als es zur Aufarbeitung der eigenen Konzerngeschichte eine privat finanzierte Studie anfertigen ließ - die Untersuchung dann aber bis auf ein paar dürre Ergebnisse nicht veröffentlichte. Dieses PR-Desaster hat die Debatte auf Ikea verengt und den Blick dafür verstellt, dass sehr viel mehr Akteure von dem System der Zwangsarbeit profitierten.

Etwa die westdeutschen Versandhäuser Neckermann, Quelle sowie die Warenhauskette Karstadt. Das behauptet zumindest Andreas P. : "Wer damals in der Bundesrepublik billig einen Fernseher gekauft hat, hat ihn mit großer Sicherheit von uns bekommen." Wie er sich da so sicher sein kann? Andreas P. lacht auf. "Solche guten Farbfernseher hatten wir nicht in der DDR." Außerdem habe mitunter "Neckermann", "Palladium" (eine Technikmarke von Neckermann) oder "Universum" (eine Handelsmarke von Quelle) auf den Geräten gestanden.

Tobias Wunschik findet diese Schilderungen glaubwürdig. Wunschik ist Experte für den DDR-Strafvollzug bei der Stasi-Unterlagenbehörde in Berlin. Bei seinen Recherchen ist er kürzlich auch auf Staßfurt gestoßen: "Das Versandhaus Neckermann ließ im VEB Fernsehgerätewerk Staßfurt, in dem unter anderem 200 Häftlingsarbeiter als Außenkommando arbeiteten, Fernseher des Typs N-Electronic 1002 herstellen."

Die Konzerne schauten bewusst weg 

Der Fall Neckermann ist damit erstmals durch Akten belegt. Unter Forschern schon länger bekannt, wenn auch nicht für Fernseher, ist das Beispiel Quelle: Zwangsarbeiterinnen aus dem Frauengefängnis Hoheneck nähten in den achtziger Jahren heimlich Briefe in die Bettwäsche ein, die sie im Akkord herstellen mussten; Quelle-Kunden fanden die versteckten Botschaften später.

Und Karstadt? Auf Nachfrage sagte der Konzern, er prüfe "seit mehreren Monaten sehr ernsthaft", ob es Verbindungen von Karstadt zu Zwangsarbeit in der DDR gegeben habe. "Bislang ist zusammenfassend festzuhalten, dass die eingeleiteten Maßnahmen keine Anhaltspunkte dafür erbracht haben." Zwar seien Karstadt und Quelle bis 2010 selbständige Schwesterngesellschaften gewesen, doch Karstadt habe mit Quelle "in keinem Haftungsverbund" gestanden und sei nicht der Rechtsnachfolger des insolventen Versandhauses.

Neben diesen juristischen Argumenten berufen sich Firmen heute gerne darauf, dass sie ja nicht wissen konnten, unter welchen Bedingungen ihre Produkte in der DDR hergestellt wurden - schließlich durften sie keine eigenen Werke in der DDR eröffnen. Sie haben bewusst die Augen verschlossen, glauben dagegen viele Historiker. "Zumindest die großen Unternehmen im Westen hatten etliche Hinweise auf Zwangsarbeit", sagt Experte Wunschik. Doch das Geschäft mit dem Billiglohnland DDR lief zu gut für moralische Bedenken.

"Wie ein KZ" 

Zu spüren bekamen das Männer wie Andreas P. Seine Schinderei begann jeden Morgen um sechs Uhr auf dem Appellplatz des Strafgefangenenlagers Athensleben. "Das Lager sah aus wie ein KZ", erinnert sich der heute 55-Jährige. "Alles war mit Stacheldraht umzäunt, an jeder Ecke war ein Wachturm, in der Mitte standen unsere Wohnbaracken aus Holz." Nach dem Morgenappell wurden die Arbeiter der Frühschicht per Bus in das 20 Minuten entfernte Fernsehwerk Staßfurt gekarrt.

Nach ein paar Wochen konnte Andreas P. nicht mehr. Das Heben der schweren Bildröhren war Gift für seinen Rücken. Seine Wirbelsäule war schon vorher geschädigt gewesen, selbst beim Militär hatten sie ihn ausgemustert. Doch nun wurden ihm die ärztlichen Atteste und sein Jammern als Arbeitsverweigerung ausgelegt. Die Strafe: eine Woche Dunkelhaft. Er schrie. Aus Wut. Und gegen die Einsamkeit.

Doch nicht nur Versandhäuser aus dem Westen profitierten von Männern wie ihm. "In der aufgeladenen Diskussion um Ikea wird völlig vergessen, wer die Hauptprofiteure der Ausbeutung waren", betont Forscher Wunschik. "80 Prozent der Zwangsarbeit kam der DDR-Wirtschaft zugute, maximal 20 Prozent der Produkte und Waren gingen in den Export." Der größte Nutznießer der Zwangsarbeit war also der SED-Staat. Er war es, der internationale Vereinbarungen zur Gefangenenarbeit systematisch brach, Häftlinge oft kaum geschützt gefährlichen Giften und Maschinen aussetzte - und das alles auch noch als Erziehung durch Arbeit verkaufte.

"Diese Brut!" 

In Wahrheit ging es darum, Engpässe zu überbrücken. Denn der Arbeiter- und Bauernstaat litt permanent unter einem Mangel an Arbeitskräften. Häftlinge mussten etwa im berüchtigten Chemiedreieck bei Bitterfeld Aufgaben übernehmen, die sonst niemand machen wollte. Und sie waren jederzeit und überall flexibel einsetzbar, wenn es in einem Betrieb mal hakte. Die finanzielle Ersparnis war dagegen eher zweitrangig: Schließlich bezahlten die DDR-Betriebe den Haftanstalten Löhne für die Zwangsarbeiter - diese wurden von den Anstalten allerdings zum größten Teil einbehalten.

Wulf Rothenbächers Wut richtete sich deshalb auch nicht gegen Westfirmen. Sondern gegen das System, die DDR. Rothenbächer, ebenfalls Zwangsarbeiter, war mit seiner Frau bei einem Fluchtversuch geschnappt worden. Im Dezember 1970 saß der HNO-Arzt deswegen im Cottbuser Gefängnis und überlegte, wie er seinem Staat, "dieser Brut", am Besten schaden konnte. Die Lösung: So schlecht wie möglich arbeiten.

In Cottbus mussten die Häftlinge Metallteile für den Dresdner Kamerahersteller Pentacon stanzen, deren billige Spiegelreflexkameras auch in den Kaufhäusern der Bundesrepublik angeboten wurden. Rothenbächer aber zog jeden Tag ein surreales Theaterstück ab.

"Ich habe meinen Arbeitsablauf bis ins Groteske verzerrt", erzählt er, und man spürt noch heute seine Genugtuung. "Leider sind mir ständig Metallteile runtergefallen, die ich dann umständlich suchen musste. Ich war halt ungeschickt! Zu den Aufsehern habe ich nie ein böses Wort gesagt, sondern mich immer hoffnungsfroh gegeben und gesagt: 'Ich kann das noch nicht so gut, aber das wird schon!'"

Natürlich wurde er nicht besser. Der Arzt arbeitete so miserabel und langsam, dass er eine irrwitzig niedrige Normerfüllung von nur fünf Prozent schaffte. Und immer mehr Häftlinge machten es ihm nach.

Das trieb die Aufseher zur Weißglut. Die Arbeitssaboteure wurden in andere Abteilungen versetzt, sie kamen in schlechtere, völlig überfüllte Zellen, doch es half nichts:Ihre Leistungen blieben ungenügend. Selbst beim Ausgang im Hof stolperten sie ständig, statt im Gleichschritt zu marschieren.

Versteckte Tränen 

Irgendwann machte die Haftleitung Rothenbächer als Rädelsführer aus und sperrte ihn in eine winzige, vergitterte Einzelzelle, die als "der Tigerkäfig" berüchtigt war. Man sagte ihm, dass er dort den Rest seiner Haft verbringen müsse. "Da habe ich fast die Fassung verloren. Als ich sicher war, dass mich kein Wärter beobachten konnte, habe ich losgeheult."

Bereut hat der 71-Jährige seine Sturheit dennoch nicht. Für sein Selbstwertgefühl sei es besser gewesen zu provozieren, als sich zu arrangieren. Nach sieben Wochen Einzelhaft wurde er als politischer Häftling von der Bundesrepublik freigekauft. Dort führte Wulf Rothenbächer seinen Protest gegen das Regime fort: Mit der Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte klärte er die nächsten 18 Jahre über Menschenrechtsverletzungen in der DDR auf und bemühte sich um die Freilassung politischer Häftlinge.

Auch Andreas P. wurde schließlich aus der DDR ausgewiesen. Nach der Wende, Jahre vor der Ikea-Affäre, schrieb er Karstadt, Quelle und Neckermann an, um auf sein Schicksal aufmerksam zu machen. Er bekam nie eine Antwort.

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